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Tausend Fiktionen

45 Episodes

8 minutes | 5 days ago
Review: Charlie Lovett - Das Buch der Fälscher | #45
»Wales konnte kalt sein im Februar …« Das spürt auch Peter Byerly, Buchhändler und Antiquar, der sich nach dem tragischen Tod seiner geliebten Frau in ein Cottage in einem verschlafenen walisischen Dorf zurückgezogen hat. Als ihm durch Zufall ein Manuskript mit handschriftlichen Randnotizen von William Shakespeare in die Hände fällt, scheint ein Traum wahr zu werden, etwas Aufregenderes kann es für einen begeisterten Bibliophilen kaum geben. Aber ist es wirklich echt? Oder doch nur eine geschickte Fälschung? Gemeinsam mit der lebenslustigen Liz, die den schüchternen Peter aus seinem Schneckenhaus locken will, versucht er, die Wahrheit herauszufinden. Als sich die Ereignisse überschlagen und ein brutaler Mord geschieht, wird den beiden klar, dass es nicht bloß um eine literarische Sensation geht, sondern tatsächlich um Leben und Tod. In seinem mitreißenden Roman erzählt Charlie Lovett die atemberaubende Geschichte eines Manuskripts, das ein jahrhundertealtes Geheimnis birgt, und zugleich eine bewegende Liebesgeschichte. Das Buch der Fälscher bei Suhrkamp Verwendete Musik: Tranquility Base by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/4542-tranquility-baseLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript Das Leben eines Antiquars Charlie Lovetts Roman “Das Buch der Fälscher” erzählt eine Geschichte, die Buchliebhaber direkt ansprechen wird. Die fesselnde Handlung ist eine Art geisterhafte Liebesgeschichte, die nicht nur durch die schmerzhaften Neurosen ihres Protagonisten Peter Byerly bereichert wird, eines Mannes, der – als wir ihm begegnen – tief in der Trauer über den Tod seiner Frau Amanda etwa neun Monate zuvor steckt. Der Protagonist ist ein Antiquar und fühlt sich mit Büchern wohler als mit Menschen. Wenn er mit den Sondersammlungen der Ridgefield University arbeitet, befindet er sich in dieser Welt der seltenen Bücher in allerbester Gesellschaft. Dort lernt er das knifflige Handwerk der Buchrestauration und auch einiges über das Fälschen von Büchern. Nach dem Tod seiner geliebten Frau führt er noch mehr das Leben eines Einsiedlers in England. Beim Versuch, sein Leben zurückzugewinnen, stößt er auf ein jahrhundertealtes Aquarell-Porträt in einem Buch über Shakespeare-Fälschungen, das seiner Frau Amanda verblüffend ähnlich sieht. Als Byerly nach dem Künstler des Gemäldes sucht, stolpert er über ein Buch, das – wenn es echt wäre – nicht weniger als ein literarisches Erdbeben auslösen könnte – den “Pandosto”, jenem Buch von Robert Greene, in dem sich eine der wenigen Zeugnisse, die wir von William Shakespeare haben, finden und das dem großen Dramatiker als Vorlage seines “Wintermärchens” diente. Dieser Fund könnte den ewigen Streit zwischen Stratfordianern (jene, die glauben, der ungebildete Shakespeare habe diese Werke wirklich alle selbst geschrieben) und Oxfordianern (jene, die glauben, ein anderer hätte diese Werke geschrieben und Shakespeare wäre nur ein “Strohmann” gewesen) für immer begraben, so es denn echt wäre, denn Shakespeare hat es mit unzähligen Randnotizen versehen, als er sein eigenes Stück daraus machte. Byerly versucht also zwanghaft, die Authetizität des Buches zu klären. Wie es aber bei einer Rätselgeschichte so ist, ist nichts wie es zunächst scheint. Der Hauch des Übernatürlichen Peter ist als Charakter durchaus sympathisch, ebenso wie Amanda, die wir in Rückblenden kennen lernen, während sich die Geschichte in Zeit und Raum vor und zurück bewegt. Natürlich ist dies ein Roman über Liebe und Verlust, aber vielleicht noch mehr als das dreht sich der Roman um Peters tiefe Liebe zu Büchern, die er durch seinen Job als Antiquar und Buchrestaurator entwickelt hat. Es ist diese Liebe, die den Roman zu einem Mysterium macht, nicht nur über Amandas Bildnis, sondern über eines der dauerhaftesten und interessantesten literarischen Mysterien aller Zeiten: ob Shakespeare wirklich der Autor jener Werke war, die ihm zugeschrieben werden. Der Hauch des Übernatürlichen, der durch die Seiten weht, wird sehr geschickt gehandhabt, ebenso wie die Struktur, die sich zwischen dem Schauplatz des 17. Jahrhunderts zur Zeit Shakespeares, zwischen Peters erstem Treffen mit Amanda und seiner “Gegenwart” im Jahre 1995 bewegt. Im Laufe der Geschichte treffen wir auf eine Reihe berühmter historischer Figuren, darunter der große Mann selbst, aber auch Christopher Marlowe und William Henry Smith, die allesamt farbenfroh gezeichnet sind. Es gibt allerlei schöne Parallelen zwischen den Zeitebenen, insbesondere zwischen den drei verschiedenen Buchhändlern, deren Verhalten letztlich die Handlung beeinflusst und entwickelt. Lovetts offensichtliche Liebe zu Büchern und sein tiefes Verständnis für die Welt des antiquarischen Buchhandels und der Restaurierung bereichern nicht nur Peters Charakter, sondern sind auch für jeden interessant, der sich für den Aufbau und die Reparatur von Büchern interessiert. Unterschiedliche Genres “Das Buch der Fälscher” ist tief in der Literaturwissenschaft verwurzelt, voll von lustigem Klatsch und historischem Spiel, die die kurzen Kapitel sehr schnell und leicht lesbar machen. Peters Aufrichtigkeit, mit der er versucht, das Richtige zu tun, selbst wenn er von seinem Kummer oder dem Hunger seiner Besessenheit geplagt wird, treibt die Geschichte voran und bietet einen ausgezeichneten Kontrast zu den weniger ehrlichen Machenschaften derjenigen, die ihn umgeben, insbesondere derjenigen, die eine Rolle im Geheimnis des “Pandosto” gespielt haben. Peters Heilung entwickelt sich im Laufe der Kapitel auf natürliche Weise und macht den Roman letztlich zu einer ungemein befriedigenden und vergnüglichen Lektüre, die eine Reihe von Genres miteinander verbindet und vor allem die Schönheit und das Wunder des literarischen Wortes zelebriert. Lovett führt hier mehr als geschickt drei Handlungsstränge zu einem perfekten Ende. Tatsächlich werden hier alle Fragen beantwortet (einschließlich die nach dem mysteriösen Gemälde), was bei den vielen Wendungen, den überraschenden Enthüllungen und den Geschichten innerhalb der Geschichte nicht einfach ist. Man hat schon größere Männer daran scheitern sehen. Und tatsächlich finden wir hier auf engstem Raum alles vor: Das Abenteuer der Suche, eine von Hass geschürte Familiengeschichte, eine komplexe Fälschung, Mord und dramatische Entdeckungen. Der Anfang des Romans aber wendet sich an Sentimentalisten mit einem Hang zur Nostalgie, an Menschen, die die Restaurierung von Büchern faszinierend finden und die wissen wollen, wie der “Pandosto” jahrhundertelang versteckt überleben konnten. Der letzte Teil des Romans ist dann für die Abenteuerlustigen, die eine gute Spannungsgeschichte lieben. Da Lovett selbst ein ehemaliger Antiquar ist, sind die Abschnitte, in denen Peter Byerlys Arbeit behandelt wird, ausgefeilt und maßgebend. Der dritte Strang erzählt die tragische Liebesgeschichte zwischen Peter und Amanda, die sich hervorragend mit den anderen Erzählfeldern verträgt und das ganze zu einem vollmundigen Lesererlebnis macht. Natürlich richtet sich das Buch nicht an die gewöhnliche Thriller-Fraktion, das muss von vorneherein klar sein. Jemand, der in Büchern nur den Text sucht und der sich nicht in eine Existenz der Einsiedelei und Panikattacken einfühlen kann, der von Nostalgie nicht eben viel wissen will und alles, was mit einer romantischen Liebesgeschichte zusammenhängt, verachtet, sollte die Finger davon lassen.
8 minutes | 8 days ago
Inspector Morse tritt auf: Colin Dexter - Der letzte Bus nach Woodstock | #44
Bei Dexters Inspector Morse war sich die Fachwelt von Beginn an einig, dass es sich um eine Rückkehr des Goldenen Zeitalters des Kriminalromans handelte. Colin Dexter – Inspector Morse: Der letzte Bus nach Woodstock / Unionsverlag In der Sendung erwähnt: Colin Dexter im Unionsverlag The Archers (BBC) Chambers Dictionary Weiterführend in den Tausend Fiktionen: Eine kleine Geschichte des Kriminalromans Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript Einer der berühmtesten Detektive Der 2017 verstorbene Norman Colin Dexter formte einen der beliebtesten und berühmtesten Detektive sehr nach seinem eigenen Vorbild. Auch Dexter war ein Liebhaber englischer Kreuzworträtsel (nicht zu verwechseln mit den unsrigen) mit einem blitzschnellen Verstand, ein von Diabetes geplagter Biertrinker und ein Kenner klassischer Musik. Bis zum Schluss kannten die Leser weder den Vornamen des Autors noch den von Morse. Erst später stellte letzterer sich als Endeavour heraus; auf den Büchern steht weiterhin nur Colin Dexter als Autor. Um sich eine Pause von seinen launischen Kindern zu gönnen, begann Dexter 1972, die ersten Absätze eines Kriminalromans zu notieren. Zunächst war es sein einziges Ziel, sich etwas Zerstreuung zu gönnen. Daraus wurden 13 Romane und die beliebteste britische Fernsehserie aller Zeiten mit John Thaw als Inspector Morse, die bald ein Prequel und ein Sequel bekam. Der letzte Roman der Morse-Reihe wurde 1999 veröffentlicht und beschließt einen Zeitraum von 25 Jahren. Auf der Liste der besten Detektive aller Zeiten rangiert er auf Platz 7, hinter Sam Spade, aber vor Father Brown. Die Rückkehr des Goldenen Zeitalters Bei Dexters Inspector Morse war sich die Fachwelt von Beginn an einig, dass es sich um eine Rückkehr des Goldenen Zeitalters des Kriminalromans handelte. Niemand sonst von den modernen Autoren kam dem so nahe, und damit ist das äußerst literarische und kluge Schreiben gemeint und nicht der inhaltliche Vorgang. Die Hauptattraktion ist natürlich Morse selbst, eine komplexe und faszinierende Figur und in gewisser Weise ein Rückgriff auf die Tage exzentrischer Detektive. In den 13 Büchern verwandelt er sich von einem kleinen, schlanken, dunkelhaarigen Mann allmählich in die weißhaarige, blauäugige Person mittleren Alters, die dann auch in der berühmten TV-Serie zu sehen ist. Dort wurde der Lancia des Buchers zwar auf mysteriöse Weise plötzlich zu einen kastanienbraunen Jaguar und Sergeant Lewis, ein stämmiger Ex-Boxer in Morses eigenem Alter, wurde zu einem jüngeren Mann, aber charakterlich blieb alles gleich, begonnen bei Morses Griesgrämigkeit, der Vorliebe für Alkohol, Kreuzworträtsel und Wagner-Opern, dem unglücklichen Liebesleben, bis hin zu den brillanten, aber sprunghaften Schlussfolgerungen. Der letzte Bus nach Woodstock “Der letzte Bus nach Woodstock” führte also Morse und Sergeant Lewis ein. Morse ist zwar jähzornig, hat aber nicht ganz den akademischen Hochmut, den er im Laufe der Fernsehsendung entwickelte – er ist vielleicht angedeutet, aber nicht voll ausgeformt. In seinen Vierzigern ist er ein ganz anderer Typ, ziemlich hartgesotten und bereits ziemlich desillusioniert von der Welt, während sie voranschreitet. Er leidet an Gicht, und in einer Szene muss er sich deswegen seine Schuhe eine Nummer größer kaufen, um zu einer Tanzveranstaltung zu gehen, wo doch ein Fuß ziemlich angeschwollen ist. In diesem ersten Roman wird ein Mädchen mit eingeschlagenem Schädel auf dem Parkplatz eines Pubs aufgefunden. Spätestens jetzt genießen wir die wohltuende Vorgehensweise ohne die überkandidelte Forensik amerikanischer Machwerke. Während Lewis den Tatort untersucht, trinkt Morse in einem Hinterzimmer erst einmal Scotch. Die klassische Arbeit des Nachdenkens ist gefragt, des Individuums. Man mag sich sicher fragen, ob überhaupt jemand nüchtern genug ist, den Fall aufzuklären, aber genau das ist das Missing Link zu vielen heutigen Werken, die sich doch eher am Thriller abarbeiten, allein schon deshalb, weil er leichter zu schreiben ist. Man kann sich einen Detektiv heutiger Prägung kaum mit bestimmten Kultiviertheiten glaubhaft vorstellen, ebenso wenig wie eine moderne Wohnung ohne irgendeinen Ikea-Schrott. Der Kultfaktor Irgendwann scheint Morse einfach ins Auto zu steigen und nach einem überraschenden Muster vorzugehen, das wie ein Zaubertrick wirkt, ohne aber den Leser zu hintergehen. Lewis weiß die Gedankengänge seines Chefs oft nicht zu deuten, aber gleich zu Beginn des Romans springt der Funke, der die kommende Partnerschaft begründet, über. Während Morse bei seiner Untersuchung einen Whiskey nach dem anderen weghaut, verkündet er, dass Lewis keinen bekommen sollte, weil er ja im Dienst sei. Das ist ein sympathischer Spaß, der vielleicht etwas rüde erscheinen mag, aber in Wirklichkeit den gegenseitigen Respekt voreinander begründen wird. Am Ende ist der Leser von einigen Überlegungen, die Morse anstellt und die zur Lösung des Falls führen, verblüfft. Es gibt bereits hier schon das typische Morse-Stolpern, das zu einer richtigen Schlussfolgerung führt. Er versteht die Dinge falsch, er geht einer losen Ahnung nach oder verfällt sogar in ein irriges Vorurteil, muss dann zurückgehen und von vorne anfangen. All das, was Morse zu einem so unverwechselbaren Charakter macht, ist hier bereits voll ausgebildet, auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht abzusehen war, welchen Kultstatus die Figur eines Tages erreichen würde. Dexter selbst hatte zu diesem Zeitpunkt mit nicht mehr als einem Roman geplant, war aber so klug, Morse so zu skizzieren, dass im Roman Informationen angelegt sind, die zur weiteren Ausarbeitung reizen. “Der letzte Bus nach Woodstock” ist aber auch deshalb ein so wichtiger Meilenstein, weil der Roman nicht auf Nummer sicher geht, sondern bereits die Türen zu dem öffnet, was dann später ein Henning Mankel oder Ian Rankin aufnehmen würde. Was uns entgeht Was den deutschen Lesern leider entgeht, sind die zufälligen Hinweise auf englische Kreuzworträtsel, die auch im Original selten erklärt werden, die Verwendung des Chambers Dictionary und des feinen zynischen Regency Period Small’s für sehr obskure und nicht so obskure Wörter. Morses Verärgerung über Rechtschreib- und Grammatikfehler kann allerdings ebenso gut transportiert werden wie seine Wertschätzung für die wenigen noch guten englischen Biere und Scotches, wobei man auch hier fachmännische Kenntnisse in Bezug auf die Marken nötig hat. Voller Rätsel muss wohl auch Morses Besessenheit von der seit 1951 laufenden britischen Radio-Seifenoper “The Archers” bleiben, die mit 19.300 ausgestrahlten Episoden das langläufigste Drama der Welt ist, obwohl es Anfangs nur dazu gedacht war, Landwirte nach dem Zweiten Weltkrieg zu informieren und zu unterrichten, was um sie herum geschah. Colin Dexters Inspector Morse ist eines der Zentren einer gut sortieren Krimi-Bibliothek. Was noch hinzukommt und Seltenheit besitzt: Die TV-Serien fallen nicht im geringsten ab. Erschienen sind die 13 Bücher im hervorragenden Schweizer Unionsverlag, und ich will zum Schluss noch einige Blurbs vortragen. So schrieb der Guardian: »Lasset jene, die den Niedergang des englischen Kriminalromans anprangern, Colin Dexter lesen.« Oder Elizabeth Grice von The Telegraph: »Colin Dexter hat einen der rätselhaftesten Charaktere der Kriminalliteratur hervorgebracht – einen mürrischen, gebildeten und unergründlichen Mann, der Dichtung und Musik liebt, wahrscheinlich zu viel trinkt und dessen Vernarrtheit in Kreuzworträtsel ihm dabei zu helfen scheint, den Killer zu finden.« Und sie Süddeutsche Zeitung sagte: »Seit Sherlock Holmes gibt es in der englischen Kriminalliteratur keine interessantere Figur als Chief Inspector Morse.«
7 minutes | 10 days ago
Die Suche nach dem legendärsten Film der Welt: Augusto Cruz - Um Mitternacht | #43
Augusto Cruz García-Mora hat mit diesem Roman Ehrgeiz und Mut gezeigt, der eine Mischung aus Detektivroman und kinematografischem Delirium mit einem Hauch Abenteuergeschichte darstellt, gespickt mit einer traumartigen Fantasie. Vielleicht finden Stummfilmliebhaber auf diesen seltsamen Seiten eine gewisse emotionale Komplizenschaft und wissen den Roman sogar noch mehr zu schätzen. Weiterführend in den Tausend Fiktionen: Die Geschichte der Vampire Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Suspenseful Cinematic Ambient by MusicLFilesLink: https://filmmusic.io/song/6195-suspenseful-cinematic-ambientLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript Das Objekt der Begierde Der Film “London after Midnight” (Nach Mitternacht) ist der erste amerikanische Film, der sich mit Vampiren beschäftigt. Nosferatu wurde 1922 veröffentlicht, ein weiterer seltsamer Film namens “Dracula Halla” 1921, außerdem soll es noch einen geheimnisvolleren russischen Vampirfilm geben, über den absolut nichts bekannt ist. Das also sind die ersten Vertreter ihrer Art, aber in diesem Buch von Augusto Cruz geht es vor allem um die Suche nach dem als verschollen geltenden “London after Midnight” (Um Mitternacht / Suhrkamp-Verlag). Dass sich um diesen Film so viele Legenden ranken ist natürlich ein gefundenes Fressen für einen Schriftsteller. Schon die Entstehungsgeschichte ist merkwürdig. Lon Chaney war zu dieser Zeit der Horror-Darsteller Nr. 1. Sehr berühmt und zurückhaltend, galt dieser Darsteller als äußerst mysteriös, ging nie aus, bevorzugte die erbärmlichen, verkrüppelten und seelisch deformierten Charaktere, und als er starb, hielten alle Kinos des Landes für einen Moment inne und gedachten seiner. Um seine Augen tränen oder verschleiert wirken zu lassen, steckte er sich Drähte in die Augen oder träufelte sich Eiweiß hinein. Das Buch 1927 wurde der Film “London after Midnight” im MGM-Filmstudio veröffentlicht. Ein Stummfilm unter der Regie von Tod Browning mit dem legendären Lon Chaney. Der Film war nicht nur finanziell, sondern auch künstlerisch ein großer Erfolg, vor allem wegen Lon Chaneys beeindruckendem Schauspiel. Die letzte Kopie des Films ging bei einem Großbrand 1967 verloren. Seit dem Brand kursieren Gerüchte, dass sich noch immer eine Kopie des Films in den Händen eines unbekannten Sammlers befindet, was “London after Midnight” auf die Liste der begehrtesten Filme aller Zeiten setzt. Der exzentrische Artefaktsammler der Stummfilmära Forrest J. Ackerman ruft den pensionierten FBI-Agenten Scott McKenzie um Hilfe. Er beauftragt ihn, die einzige verbliebene Kopie des Films “London after Midnight” zu finden. McKenzie, einst Vertrauter des FBI-Direktors J. Edgar Hoover, nimmt den Auftrag an und beginnt eine manchmal äußerst gefährliche Suche nach dem Heiligen Gral des Stummfilms. McKenzie hat nicht viel Zeit, denn Ackerman befindet sich im Frühstadium der Alzheimer-Krankheit und beginnt, Dinge zu vergessen. Halb verbürgte Realität, halb fiktionale Ambition, basiert “London after Midnight” auf einer wahren Geschichte, denn der Film existierte und bleibt bis heute verschwunden. Die aufgeführten Personen in diesem Roman agieren lebendig, die gesamte akribische Dokumentation dieser Jahre, die gleich zu Beginn ein ausgeprägtes Stimmungsbild liefert, tut ihr Übriges. Cruz hat, ausgehend von einigen sehr mysteriösen Fakten, eine sehr konsistente Handlung um diesen Film herum konstruiert. Zu Beginn mag der Stil etwas eigenwillig erscheinen, weil er diese gewisse mexikanische Note besitzt, die den Rhythmus und die Kraft der Erzählung wie ein Destillat erscheinen lässt, wie ein Traum, der die Magie und das Geheimnis nur durch Andeutungen unterstützt. In zwei temporalen Bögen entspinnt sich die Geschichte – einer beschäftigt sich mit der Suche nach dem Film, ein zweiter zeigt die Vergangenheit McKenzies als Hoovers Assistent – und der Roman arbeitet dabei wie ein Schweizer Uhrwerk, der die Handlung abwechselnd ineinanderschlingt. McKenzies Erinnerungen an den Direktor werden hier klassisch vorgetragen, während seine Suche mit seltsamen Geschehnissen gespickt ist. Da gibt es Schlösser, Monster, Geisterstädte, Schatten, Legenden, Erinnerungen, Träume in einem abenteuerlichen Setting, das nicht nur Freunde des frühen Films begeistern kann. In einem Kontrapunkt kreist die Erzählung um das Erinnern und das Vergessen. Hiervon zeugen einerseits McKenzies Erinnerungen an Hoover, aber auch an seine Frau und seine Tochter, die eines Tages unauffindbar verschwunden waren und blieben. Augusto Cruz hat einen herausragenden ersten Roman geschrieben, der zwar etwas an Austers wunderbares “Buch der Illusionen” erinnert, aber dennoch ganz eigene Wege geht. Augusto Cruz García-Mora ist ein mexikanischer Autor, der 1953 in Tampico geboren wurde. Er studierte Kinematographie in Mexiko und an der University of California. Für seine filmischen Arbeiten erhielt er unter anderem Preise vom Instituto Tamaulipeco para la Cultura y las Artes und vom Centro de las Artes von Oaxaca. Cruz steckte viele Jahre Forschungsarbeit in den Roman, und kann als großer Kenner auf dem Gebiet des Films gelten. Er hat einen erstaunlich visuellen und farbenfrohen Schreibstil, der den Leser in die Welt des Stummfilms einführt. Jeder Schauspieler, von dem er spricht, hat wirklich gelebt, alle Geschichten, die um Filme herum kursieren, sind wahr, und das macht das Buch äußerst interessant. Der Autor hat sich in einem Fernstudium zum Privatdetektiv ausbilden lassen, bevor er sein Debüt zu Papier brachte. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass er alles, was er dabei gelernt hat, in diesem Roman ausbreitet. Zum Schluss sei noch gesagt, dass sich in verschiedenen Besprechungen darüber beschwert wird, dass der Autor wohl noch nie etwas von einem Absatz oder von Satzzeichen gehört hat. Wer also ebenfalls zu jenen gehört, die ein Schriftbild für ABC-Schützen dringend benötigen, um einen Text lesen zu können, denen sei noch etwas Übung verordnet, bevor sie hier zugreifen.
9 minutes | 12 days ago
Agatha Christie: 100 Jahre Hercule Poirot | #42
Mit zwei Milliarden Büchern, die in über 100 Sprachen übersetzt wurden, ist Agatha Christie die unangefochtene Königin des Kriminalromans, die weltweit meistverkaufte Romanautorin und die wohl erfolgreichste weibliche Bühnenautorin aller Zeiten. Im Oktober 2020 jährte sich die Veröffentlichung ihres ersten Romans “Das fehlende Glied in der Kette” zum 100ten Mal, und damit auch das Erscheinen des legendären Hercule Poirot, dem kleinen Mann mit dem tadellos gepflegten Schnurrbart, der mit Hilfe seiner  “kleinen grauen Zellen” jedes Verbrechen lösen konnte.  Weiterführen in den Tausend Fiktionen: Eine kleine Geschichte des Kriminalromans Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Evil Plan by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/3725-evil-planLicense: https://filmmusic.io/standard-license Garden Music by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/3796-garden-musicLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript Die erfolgreichste Autorin der Welt Mit zwei Milliarden Büchern, die in über 100 Sprachen übersetzt wurden, ist Agatha Christie die unangefochtene Königin des Kriminalromans, die weltweit meistverkaufte Romanautorin und die wohl erfolgreichste weibliche Bühnenautorin aller Zeiten. Im Oktober 2020 jährte sich die Veröffentlichung ihres ersten Romans “Das fehlende Glied in der Kette” zum 100ten Mal, und damit auch das Erscheinen des legendären Hercule Poirot, dem kleinen Mann mit dem tadellos gepflegten Schnurrbart, der mit Hilfe seiner  “kleinen grauen Zellen” jedes Verbrechen lösen konnte.  Obwohl er möglicherweise nach Sherlock Holmes der zweitberühmteste Detektiv der britischen Kultur ist, ist Poirot gar kein Brite, sondern ein Flüchtling. Er kam als Teil einer Gruppe von Belgiern, die durch den Ersten Weltkrieg vertrieben worden waren, nach England, doch seine Wiege liegt in Brüssel. Indem sie über diesen pensionierten belgischen Polizisten schrieb, der Fälle in ganz Großbritannien und auf der ganzen Welt löst, konnte Christie die Komplexität des Englischen und seine Beziehung zu Kontinentaleuropa erforschen (und sich manchmal auch darüber lustig machen). Agatha Christie – Die Krankenschwester Agatha Christie war Mitte 20, als sie 1916 mit dem scheinbar unmöglichen Unterfangen begann, ihren ersten Kriminalroman zu verfassen. Zu dieser Zeit war Christie mit einem Offizier des britischen Royal Flying Corps verheiratet und arbeitete in einem Krankenhaus in Torquay, England, zunächst als Krankenschwester und später in der Apotheke, wo sie Medikamente zubereitete und bereitstellte. Während dieser Tätigkeit entwickelte sie eine Faszination für Gifte, die sie in den nächsten sechs Jahrzehnte nicht mehr loslassen sollte. In vielen ihrer bekanntesten Romanen wird das ihr bevorzugtes Mittel sein, jemanden über den Jordan zu schicken, und natürlich war es das auch in ihrem allerersten Buch “Das fehlende Glied in der Kette”, ein früher Beitrag dessen, was heute als das Goldene Zeitalter der Detektivgeschichten bezeichnet wird, eine Periode, die sich in etwa von 1920 bis in die 40er Jahre hinein erstreckte. Das Buch wirft uns in die Gesellschaft von Captain Arthur Hastings, einem Soldaten, der von der Westfront des Ersten Weltkriegs nach Hause zurück kehrt und die Einladung angenommen hat, einen Teil seines Krankenurlaubs in Styles Court zu verbringen, dem Landsitz seines Jugendkollegen John Cavendish in Essex. Seine Ruhe dort wird jedoch bald durch die Ermordung von Cavendishs älterer, verwitweter und wohlhabender Stiefmutter Emily Inglethorp gestört. Hastings sucht Hilfe bei Hercule Poirot, einem pensionierten, aber einst berühmten belgischen Polizeibeamten, den Hastings vor dem Krieg kennen gelernt hatte und der seit kurzem als Emigrant in einem Haus in der Nähe von Styles lebt. Fans von Sherlock Holmes werden die Figuren von Hercule Poirot und seinem Freund Captain Hastings ziemlich vertraut erscheinen. Ein ausgezeichneter Detektiv, der allen anderen auf diesem Gebiet um Längen voraus ist und mit einem Ex-Soldaten zusammenarbeitet. Christie lässt sogar den Namen Sherlock Holmes sehr früh im Buch fallen, so dass man leicht erkennen kann, woher die Inspiration kommt. Abgesehen davon ist diese Serie jedoch kein billiger Abklatsch von Sherlock Holmes. Ein Zeitzeugnis Wie jeder besonnene Leser zu schätzen wissen wird, wurde der Roman natürlich in einer Zeit geschrieben, in der andere gesellschaftliche Normen galten. Wer also dazu neigt, Geschichte durch eine heutige Linse zu betrachten, sollte sich selbst einen Gefallen tun und etwas anderes lesen. Leider muss das immer wieder erwähnt werden, weil solche schlechten Leser dazu neigen, ihre Denkfehler lautstark unters Volk zu schreien. Wer aber etwas über diesen Zeitabschnitt herausfinden will, der wird hier gut bedient, denn eines ist gewiss: keiner der heute verfassten historischen Romane kann jenen Autoren, die in dieser Zeit lebten, das Wasser reichen. Hier haben wir echte Momentaufnahmen darüber, wie das Leben damals wirklich war, wie Verbrechen begangen wurden und wie sich das Gesetz dazu verhielt. Poirots Verdacht, dass die Verstorbene mit Strychnin, “einem der tödlichsten Gifte, die der Menschheit bekannt sind”, vergiftet wurde, bestätigt sich, obwohl die genaue Dosierung dieses bitteren Neurotoxins unbekannt ist. Ebenso wenig wie die Identität des Mörders. Die Verdächtigen aber sind zahlreich, unter ihnen John Cavendish und sein jüngerer Bruder Lawrence, deren Anspruch auf das Vermögen ihrer Stiefmutter in Zweifel steht; Emilys bedeutend jüngerer Ehemann Alfred Inglethorp wird als “ein mieser kleiner Schurke” beschrieben; Evelyn Howard, die von der verstorbenen Großmutter angeheuerte Lebensgefährtin, die eine einzigartige Feindseligkeit gegenüber Alfred zeigt; Mary Cavendish, deren Liebe zu Ehemann John zwischen seinen Tändeleien und ihren eigenen eintönigen Flirts stark gelitten hat; und Cynthia Murdoch, Emilys Schützling, die zufällig in einer Apotheke arbeitet. Es liegt an Poirot, mit Unterstützung von Hastings und Scotland Yard-Inspektor James Japp, Motive und Möglichkeiten abzuwägen und schließlich herauszufinden, wer aus diesem illustren Kreis für die vorzeitige Entsendung von Frau Inglethorp verantwortlich war. Obwohl Christies Prosa hier recht sparsam ist, sind ihre Bemühungen um Irreführung und falsche Fährten meisterhaft eingesetzt und ihr Plot aufwendig gestaltet. Die Idee, Strychnin als Waffe einzusetzen, stammt natürlich aus den Krankenhauserfahrungen der Autorin. Tatsächlich ist ohne ein fachmännisches Wissen um Gifte die Lösung des Rätsels nicht zu finden. Poirots freudianischer Fokus Oberflächlich betrachtet ähneln Christies Romane einem nostalgischen Rückzug ins Pastorale und ins englische Herrenhaus. Dank der Betonung geschlossener Räume und detaillierter Grundrisse herrschaftlicher Gebäude lassen sie sich als eine mögliche Hinwendung nach innen lesen. Doch dieser Anschein trügt. Die Öffnung von Grenzen, sowohl buchstäblich als auch intellektuell, prägten Christies England. Es war ihr Verständnis für die Arbeit europäischer Denker, das ihrem Detektiv einen Vorsprung verschaffte. Wo ein englischer Detektiv, wie Sherlock Holmes, nach äußeren Beweisstücken sucht, die analysiert werden können, löst Poirot den Fall, indem er die verborgenen Implikationen des Verhaltens der Menschen erkennt – einschließlich seiner eigenen. Poirots freudianischer Fokus auf die Psychologie der Verdächtigen ermöglicht es ihm zu erkennen, dass einfache Fehler und Versprecher tiefere Bedeutungen verbergen können. In “Das fehlende Glied in der Kette” wird ein entscheidender Hinweis enthüllt, als Poirot die Bedeutung seines eigenen, fast unbewussten Instinkts, aufzuräumen, erkennt. In Christies Welt reicht der typisch englische gesunde Menschenverstand von Polizisten nicht aus, um das Rätsel zu lösen. Stattdessen bringt eine Prise kontinentale Theorie Licht ins Dunkel dessen, was unter der Oberfläche liegt. Ein weiteres Markenzeichen von Poirot ist sein gelegentliches Ringen um das richtige englische Wort oder die richtige Redewendung. In The Mysterious Affair at Styles – wie das Buch im Original heißt – zitiert er sogar Hamlet falsch. Doch es wäre falsch, diese Momente als einfache Fehler zu lesen. Stattdessen spielt Poirot wissentlich mit der Trope des “komischen Ausländers”, indem er Schwierigkeiten mit der Sprache nutzt, um Verdächtige zu entwaffnen und Ängste vor Verdächtigungen zu zerstreuen (wie konnte eine so komische Figur ein so großer Detektiv sein?). In den berühmten Szenen, in denen Poirot die Wahrheit erklärt, wird sein Englisch deutlich fließender. Poirot verkörpert dabei den Außenseiter, der perfekt in der Lage ist, englische Täuschungen zu durchschauen. Der Erfolg des “lustigen Ausländers” bei ahnungslosen Engländern spielt in Christies Büchern eine zentrale Rolle. Zwischen 1921 und 1975 schrieb Agatha Christie 33 Romane, zwei Theaterstücke und mehr als 50 Kurzgeschichten über Hercule Poirot. Ausnahmslos alle Geschichten wurden für das Fernsehen adaptiert.
11 minutes | 15 days ago
Oskar Matzerath (Der Blechtrommler) | #41
Auf einer oberflächlichen Ebene erzählt Die Blechtrommel die Geschichte von Oskar Matzerath, einem eingesperrten Wahnsinnigen, Zwerg aus eigenem Willen, Paranoiker, Besitzer übernatürlicher Gaben, rachsüchtiges Genie, gefallener Engel, Miniaturtyrann, obsessiver Trommler des titelgebenden Instruments. Oskar ist all das und nichts davon; der ultimative unzuverlässige Erzähler. Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Tranquility Base by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/4542-tranquility-baseLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript Auf einer oberflächlichen Ebene erzählt Die Blechtrommel die Geschichte von Oskar Matzerath, einem eingesperrten Wahnsinnigen, Zwerg aus eigenem Willen, Paranoiker, Besitzer übernatürlicher Gaben, rachsüchtiges Genie, gefallener Engel, Miniaturtyrann, obsessiver Trommler des titelgebenden Instruments. Oskar ist all das und nichts davon; der ultimative unzuverlässige Erzähler. Als der junge Grass Ende der 1950er Jahre in Paris anfing, sein extravagantes Schelmenstück zu schreiben, studierte er gerade Bildhauerei und Grafik und war zum Steinmetz ausgebildet worden. Mit diesen Künsten beschlagen wollte er sich den verschiedenen Versionen der deutschen Geschichte stellen, die ihm beigebracht worden waren und die er bis dahin gelebt hatten. Die Blechtrommel kombiniert Historisches, Horrorgeschichte, Burleske, Komik und satirische Fabel mit lebendigen, subversiven Bildern. Stilistisch ist der Roman Lichtjahre von den stattlichen Erzählungen Thomas Manns entfernt, der 1929, zwei Jahre nach der Geburt von Grass, den Nobelpreis gewonnen hatte. Die Blechtrommel löste sich zweifellos von der gewaltigen Präsenz Manns. Grass zieht es in seinem Roman stattdessen zu den wilden, organischen Wortbildern, die den Magischen Realismus des Kubaners Alejo Carpentier prägten. Grass wiederum hatte dann seinerseits einen großen Einfluss auf Salman Rushdies 1981 mit dem Booker Prize dotierten Roman Mitternachtskinder. Oskars Odyssee Manche Menschen finden Zuflucht nur in einem Irrenhaus. Von seinem weiß emaillierten Krankenhausbett aus, unter dem wachsamen, wenn auch verwirrten Auge von Bruno, seiner Pflegekraft, macht sich Oskar Matzerath mit Hilfe eines Familienfotoalbums auf den Weg, um nicht nur seine Geschichte, sondern auch die seines Landes zu erzählen. Dabei entscheidet er sich zu einem Wechsel der Erzählperspektiven zwischen erster Person und dritter Person. Trommeln ist seine Art, sich von seiner Familie und den Ereignissen um ihn herum zu lösen. Er zertrümmert jede neue Trommel, und der Ersatz lässt einige Tage auf sich warten. So entfaltet sich der Wahnsinn der Geschichte; so bedrückend schildert er die Realität, der er zu entkommen beabsichtigt. Wenn er auf den ersten Seiten dieser wütenden, schwindelerregenden und erdigen Tour de Force sagt: “Das Bettgitter möchte ich erhöhen lassen, damit mir niemand mehr zu nahe tritt”, ist das keine Überraschung. Hier haben wir einen Roman, der aus dem Erbe eines barbarischen Krieges entstanden ist. Die Blechtrommel hat alle erzählerischen Regeln gebrochen und ein paar weitere erfunden. Oskars Odyssee beginnt, als er an seinem dritten Geburtstag die Kellertreppe “hinunterfällt”, und sich entschließt, von nun an nicht mehr zu wachsen. Stattdessen will er unerbittlich trommeln und das Glas mit seiner Stimme zersingen. Seine Geschichte aber beginnt einige Jahre früher, noch bevor er geboren wurde. In der Tat liegen seine Wurzeln in der Vorstellung, die er von seiner Mutter hat. An einem Montagnachmittag fabuliert er ihre Entstehung durch seine Großmutter Anna, die damit beschäftigt ist, Kartoffeln auf einem kaschubischen Feld zu sammeln. Sie hält an, um ein paar davon zu rösten und macht ein kleines Feuer. Nach einer Weile beschließt sie, eine zu probieren und schaut “mit gerundetem Blick über geblähten, Rauch und Oktoberluft ansaugenden Nasenlöchern über das Feld zum nahen Horizont und den einteilenden Telegrafenstangen und dem knappen oberen Drittel des Ziegeleischornsteines”. Anna beobachtet, wie sich eine Verfolgungsjagd vor ihr entfaltet. Sie versteckt den Flüchtigen unter ihren vielen Röcken, genauer gesagt vieren davon, und lotst die Polizei auf eine falsche Fährte. Obwohl nicht gerade eine Liebesgeschichte, wird Joseph Koljaiczek, der sich unter den Röcken versteckt, der Vater von Oskars Mutter Agnes. Aber Oskar lässt mit dem Flair eines wahren Geschichtenerzählers die Fakten tanzen: “Anna Bronski, meine Großmutter, wechselte noch unterm Schwarz der nämlichen Nacht ihren Namen: ließ sich also mit Hilfe eines freigiebig mit Sakramenten umgehenden Priesters zur Anna Koljaiczek machen und folgte dem Joseph, wenn nicht nach Ägypten, so doch in die Provinzhauptstadt an der Mottlau, wo Joseph Arbeit als Flößer und einstweilen Ruhe vor der Gendarmerie fand.” Die Stadt an der Mündung der Mottlau ist natürlich keine Geringere als Grass’ Geburtsort Danzig. Oskar und Grass spielen durchgehend metafiktionale Spiele; keiner von beiden kann jemals einem Exkurs widerstehen – die meisten davon sind signifikant. Es werden Geschichten erzählt. Die Charaktere wandern rein und raus. Manchmal sterben sie, manchmal nicht. Die wahnwitzige Erzählung Die Erzählung rast überschwänglich und selbstbewusst mit einer schieren Körperlichkeit der Sprache dahin, mit ihren rollenden Phrasen, Nebenbemerkungen, einem originell-rhythmischen Einsatz von Wiederholungen, märchenhaften Motiven und einer Fülle von Sprachwitzen. Obwohl er großzügig mit den Details von allem umgeht, was vor ihm geschah, entschuldigt sich Oskar nicht für sein besonderes Interesse an seiner Geschichte, da er darauf brennt, den Beginn seiner Existenz zu verkünden. Er trommelt weiter, und seine Geschichte wird schnell kompliziert, als seine Mutter den Lebensmittelhändler Alfred Matzerath heiratet, aber ihre Romanze mit ihrem Cousin Jan wieder aufnimmt und Oskar mit zwei Vätern zurücklässt. Jan ist der Romantiker, aber Alfred kann kochen. Oskar ist ein lakonischer Erzähler, mit einem Auge für Details: “Ich erblickte das Licht dieser Welt in Gestalt zweier Sechzig-Watt-Glühbirnen”. In Oskar hat Grass einen Zeugen, dessen Geschichte in der Kindheit beginnt. Als Baby war er bereits vollkommen. “Ich war eines dieser hellhörigen Säuglinge, deren geistige Entwicklung schon bei der Geburt abgeschlossen ist und sich fortan nur bestätigen muss.” Er konnte hören, wie seine Mutter ihre Enttäuschung darüber, dass er kein “kleines Mädchen” war, mit einer Bemerkung milderte, die sich als ironisch erweisen sollte: “Wenn der kleine Oskar drei Jahre alt ist, soll er eine Blechtrommel bekommen.” Von Geburt an hatte Oskar die Fähigkeit, Dinge außerhalb des natürlichen Bereichs der menschlichen Sinne wahrzunehmen. Seine Blechtrommel kommentiert symbolisch das Blechohr (Trommelfell) einer apathischen Bevölkerung und seine Fähigkeit, Stimmen zu hören, die außerhalb der Reichweite der gewöhnlichen Wahrnehmung liegen. So unangenehm es auch ist, Oskar hört die authentischen Geräusche seiner Welt, Vergangenheit und Gegenwart, und versucht so, die grausamen Wahrheiten festzuhalten, denen eine kriegsgeschädigte Nation widersteht. Der junge Oskar ist ein trotziges Individuum, offen für Abenteuer, insbesondere für sexuelle Eskapaden. Das Komische verwandelt sich oft ins Groteske, wenn etwa ein Ausflug am Karfreitag zum Kauf von Aalen führt. Die Szene beinhaltet das ekelhafte Schauspiel, wie ein Pferdekopf, randvoll mit Aalen aus der Ostsee gezogen wird. Bald darauf stirbt Oskars hübsche Mutter und wird im Roman zur “armen Mama”. Ihr Tod ist der erste von vielen. Während des gesamten Romans beschäftigt sich Oskar in ziemlich grafisch dargestellten Sexszenen mit einer Reihe von Frauen. Er begibt sich auf eine Tournee mit Bebras Zirkusgruppe und beobachtet, wie Roswitha, seine Geliebte, stirbt, von einer verirrten Granate getötet, und das alles, weil er sich weigerte, ihren Morgenkaffee zu holen. Das neue Wachstum Es geht munter weiter in dieser Burleske, bis Oskar von einem Stein am Kopf getroffen wird und wieder wächst. Er setzt sich für Künstler ein, wird Jazzmusiker, findet Ruhm. Aber immer ist er auf der Suche nach etwas: Liebe? Sicherheit? Antworten? Danzig, zwischen Deutschland und Polen gefangen, ist Oskars tragischer Spielplatz. Die Geschichte ist dicht, eine Achterbahnfahrt; Oskar ist sowohl Monster als auch tragischer Held. Vor allem ist er ein Zeuge, wütend und verzweifelt. Zum Abschluss des Romans sagt Oskar: “Mir gehen jetzt die Worte aus, aber ich muss noch darüber nachdenken, was Oskar nach seiner unvermeidlichen Entlassung aus der psychiatrischen Einrichtung tun wird. Heiraten? Ledigbleiben? Auswandern? Modellstehen? Steinbruch kaufen? Jünger sammeln? Sekte gründen?” Man hat sich oft nach dem Symbol für das zwanzigste Jahrhundert gefragt; Oskar ist dieses Symbol, mehr noch: er ist nicht nur das Symbol des zwanzigsten Jahrhunderts, er IST das zwanzigste Jahrhundert. Gleichzeitig ist Die Blechtrommel einer der wenigen phantastischen Romane eines deutschen Autors von Weltrang. Und für alle, die nicht lesen können: Der Film ist auch nicht schlecht.
6 minutes | 17 days ago
Review: David Mitchell - Slade House | #40
Gespenstergeschichte in fünf Akten Slade House besteht aus fünf miteinander verflochtenen Geschichten, die jeweils neun Jahre auseinanderliegen. Von 1979 bis 2015. Die Protagonisten sind ganz unterschiedliche Charaktere – ein 13jähriger Junge, ein Polizist, eine Studentin, die neugierig auf Geister ist, eine Journalistin (und Schwester der Studentin) – werden in ein Haus gelockt, wo sie es mit gestaltwandlerischen dunklen Mächten zu tun bekommen. Weiterführend auf Tausend Fiktionen: Die Anfänge der Schauerliteratur Der Ursprung der Geister Spukhaus und Geisterhaus Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Long Note Four by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/3991-long-note-fourLicense: https://filmmusic.io/standard-licens Transkript Slade House besteht aus fünf miteinander verflochtenen Geschichten, die jeweils neun Jahre auseinanderliegen. Von 1979 bis 2015. Die Protagonisten sind ganz unterschiedliche Charaktere – ein 13jähriger Junge, ein Polizist, eine Studentin, die neugierig auf Geister ist, eine Journalistin (und Schwester der Studentin) – werden in ein Haus gelockt, wo sie es mit gestaltwandlerischen dunklen Mächten zu tun bekommen. Mitchell ist ein Autor, der seine Geschichten gerne faltet, für den die Wirklichkeit nicht von Zeiten und Räumen dominiert wird. Aber diese “Faltungen” sind immer auch Erlebnisfragmente der Protagonisten, die hier verdichtet werden. Für die Mitchell-Kenner gibt es gleich zu Beginn eine Begegnung mit der “mondgrauen” Katze, die bisher in jedem Buch auftaucht, aber diesmal ist sie tot, die Augen von dicken Fliegen besiedelt. Die Nachricht ist klar: Hier gibt es keine Hilfe, niemand wird kommen, um den Tag zu retten. Für Mitchell gibt es nie die eine große Erzählung. Seine Arbeit besteht aus unzählig vielen kleinen Details, aus einer Fülle von Geschichten, denen der sinnhafte Zufall als Kitt gilt. Damit kommt er der Wirklichkeit so nahe wie andere Autoren eben nicht. Tatsächlich ist es an der Zeit, den Begriff “mitchellesk” einzuführen, und das bedeutet bei vorliegendem Werk, dass es einen ästhetisch-erhabenen Horror präsentiert, der seinen Schrecken ausbalanciert und literarisch ohnehin genuin geschildert ist. Deshalb ist Mitchell auch weit weg vom Genre-Kitsch und seinen Gewaltexzessen, aber auch von der klassischen Atmosphäre. Wenn es aus einer Spukgeschichte noch etwas Originelles herauszuholen gab, dann ist es hiermit geschehen. Wenn man, wie Mitchell, eine Geschichte alles sein lässt, dann wird sie einzigartig sein. Slade House – Fünf Aufzüge Abgesehen davon wird hier die traditionelle Art, Horrorgeschichten zu erzählen, umgangen. Es scheint so, als wäre die erste Geschichte das Original und alle anderen Kapitel die Fortsetzungen davon. Diese fünf Teile sind eine Zusammenstellung möglicher Geistergeschichten. Die erste ist eine “pharmazeutische” Geistergeschichte. Nathan hat seiner Mutter die Valium-Tabletten geklaut und denkt, dass alles, was er erlebt, von dieser Droge stammt. Der Protagonist in der zweiten Geschichte ist ein Ungläubiger, ein Polizist, der an die Ordnung glaubt. Das ist die “psychiatrische” Geistergeschichte: was passiert steckt in den Köpfen und nicht außerhalb. In der dritten Geschichte ist die Protagonistin ziemlich passiv, sie ist ein Opfer der Erzählung. Diese Geschichten sind Variationen, drei Geistergeschichten, die die Wiederholung als Stilmittel nutzen, um den Leser zu verwirren. Die vierte ist eine Meta-Geistergeschichte – der historische Hintergrund des Ganzen wird hier enthüllt. Und dann gibt es die Coda, die schließende Geschichte, erzählt aus der Sicht des Geistes. Hier wird man als Leser fast dazu verleitet, zu vergessen, dass diese Wesen Monster sind. Diese fünf Akte sind nicht willkürlich gewählt. Mitchell entnimmt sie dem elisabethanischen Drama. Durch diese Zahl entsteht ein Muster, das in längeren Stücken die Unausweichlichkeit aufbaut. Etwas geschieht erneut. Und das spiegelt genau die Haltung des Lesers weider. Er kennt diese Geschichten, er hat schon ein paar Variationen davon gelesen, vielleicht sogar sehr viele. Er weiss, wie es endet, und es wird schrecklich sein. Er weiss, was er bekommt. Und er will es wieder. Warum? Mitchell selbst sagt, es sei die Idee der Bühne. Wir flirten mit der Vorstellung, dass die vierte unsichtbare Wand nicht da ist, und das Genre tut sein bestes, uns davon zu überzeugen, dass diese vierte Wand nicht da ist, und dass der Schrecken sich auf macht, uns zu erreichen. Wir mögen diese Angst, sie gibt einer Geschichte Textur und Geschmack. Geschichten über das Übernatürliche überzeugen uns sehr gut davon, dass es nicht nur Geschichten sind. Und wir spielen mit, mehr als in allen anderen dramatischen Formaten. Oft basieren Geistergeschichten auf der merkwürdigen Prämisse, dass die Geister an einen bestimmten Ort gebunden sind. Mitchell geht hier anders vor, er liefert (in Kapitel 4: “Du stilles Wasser du”) die Begründung, warum das im Fall der beiden Entitäten Norah und Jonah so ist. In Bezug auf die Motive lässt er unausgesprochene Tropen nicht gelten. Mitchell geht sogar so weit, zu sagen, dass die Toten in den meisten Geschichten ihren Ort nicht verlassen, weil sie nicht wissen, dass sie tot sind. Sie bleiben, weil sie denken, ein Recht darauf zu haben, hier zu sein, und diese verdammten Menschen dringen in ihre Räume ein und ignorieren sie einfach. Oder sie wurden durch Schuldgefühle, Missbrauch oder unerledigte Geschäfte aus der Normalität verbannt. Slade House ist eine schnelle Lektüre, eine willkommene Abwechslung, aber man tut sich keinen Gefallen, wenn man durch die Seiten rast, man bringt sich um den Genuss. Das letzte, das wir von Mitchell erwarten konnten, ist Einfachheit. Hier aber schillert sie in jedem Satz, poliert zu einer höllischen Bronze.
8 minutes | 19 days ago
Review: David Morrell - Der Opiummörder | #39
David Morrell hat in seinen drei De Quincey-Romanen den historischen Kriminalroman unendlich bereichert. Nicht nur, dass sie zum besten zählen, das es auf dem Sektor des viktorianischen London zu lesen gibt, es ist auch eine Meisterleistung der Recherche. Vater und Tochter De Quincey werden im Grunde nur von Sherlock Holmes selbst übertroffen, mit dem einen Unterschied, dass es De Quincey wirklich gab, und man ihn auch gelesen haben sollte. Weiterführende Sendung auf Tausend Fiktionen: Kleine Geschichte des Kriminalromans Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Long Note Four by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/3991-long-note-fourLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript Thomas De Quincey war einer der intelligentesten Autoren, die England je hervorgebracht hat. Im gewöhnlichen Lesebetrieb ist er heutzutage allerdings nicht mehr so bekannt wie etwa Baudelaire oder andere dekadente Autoren. Seine “Bekenntnisse eines englischen Opiumessers” von 1822 gehören dennoch zu jenen Büchern, die man gelesen haben sollte, und dabei ist es völlig unerheblich, was sonst noch auf dieser Liste stehen mag. De Quincey bemühte sich nach Kräften, dem Opium zu widerstehen, konnte es aber nicht, weil es ein so wirksames Schmerzmittel war und er unter zahlreichen körperlichen Beschwerden litt. Seine psychologischen Theorien kamen über ein halbes Jahrhundert vor Freud auf den Markt (ähnlich früh war nur Poe, der allerdings auch von De Quincey beeinflusst war). Er war es, der den Begriff “Unterbewusstsein” erfand und er war es, der zum ersten Mal über Alptraum-Horror schrieb, unter der Prämisse, dass jeder eine schreckliche und fremdartige Version von sich selbst in einer verschlossenen Kammer seines Geistes vorfinden kann. David Morrell hat nun einen genialen Schachzug gemacht und De Quincey in eine ganze Reihe historischer Persönlichkeiten gestellt, die als Ermittler fungieren. Man kann das fast schon als einen eigenen Zweig sowohl der historischen Romane als auch des Kriminalromans ganz allgemein sehen. Geht es um das Viktorianische London, ist die Figur des Sherlock Holmes so dominierend, dass es schwer fällt, eine Figur der damaligen Zeit zu finden, die ihm das Wasser reichen kann. Graham Moore ist dem ausgewichen, indem er Arthur Conan Doyle und Bram Stoker auf Ermittlungsreise schickte. Thomas De Quincey Aber Morell hat De Quincey gefunden, und tatsächlich ist es ganz unerheblich, ob man ihn bereits kennt oder nicht; man wird ihn kennen lernen. Dabei hält sich David Morrell so nahe an die Biographie des exzentrischen Mannes, wie es geboten erscheint, ohne sich in seiner Fabulierlust einschränken zu müssen, denn David Morrell begnügt sich nicht einfach mit dem Schriftsteller allein; selbst die von ihm dargestellten Morde haben einen grausamen Hintergrund, der einige Jahrzehnte vor Jack the Ripper für Panik in den nebelverhangenen Gassen Londons sorgte. Ganz zu schweigen von einem Plot, der die geschichtliche Materie mit leichter Feder in einen atemberaubenden Thriller verwandelt. Im Original heißt der Roman “Murder as a Fine Art”, das dem 1827 im Blackwood’s Magazine erschienenen Essay De Quinceys mit dem Titel “On Murder Considered as one of the Fine Arts” so nahe kommt wie irgend möglich. Hier kommt das bei deutschen Verlagen dauernd zu beobachtende Klittern zum tragen, wenn das Buch lapidar mit “Der Opiummörder” überschrieben wird. Tatsächlich nämlich spielt das Essay eine herausragende Rolle bei den vorliegenden Verwicklungen. Seine darin enthaltene präzise und überzeugende Darstellung und Analyse der Ratcliffe-Highway-Morde von 1811 bringen den Schriftsteller nämlich in starke Schwierigkeiten. David Morrell erklärt uns am Ende sein akribisches Vorgehen und wie er sich zwei Jahre lang in das London von 1854 und in die Schriften De Quinceys versenkt hat, er erklärt uns also all das, was man von einem guten Autor erwartet, und vor allem gilt das bei Morrell, den nicht wenige für den herausragenden lebenden Thriller-Autor halten. Klar erkennbar sind dann hier auch die Versatzstücke des historischen Kriminalromans, der aber völlig anders gestaltet ist als man das an der mittlerweile unüberschaubaren Masse dieses Genres beobachten kann. Hier finden wir keine Rätselgeschichte vor, in der ein Verbrechen begangen wurde und ein Detektiv vorgestellt wird, der den Fall untersucht, Hinweise sammelt und das Rätsel löst (Whodunnit). Es ist irgendwann ganz offensichtlich, wer der Mörder ist und das ist Teil der Handlung, weil David Morrell hier nicht die Frage nach dem Rätsel der brutalen Morde stellt, sondern auch gleich die Erfahrungen des äußerst gefährlichen Mörders mitliefert. Tatsächlich ist die Entwicklungsgeschichte des Mörders, der die Ratcliffe-Highway-Morde nachstellt, die er aus De Quinceys Essay in allen Einzelheiten kennt, in einer makellos psychologisch logischen Form dargestellt. Dabei verzichtet David Morrell bei seiner Figurendarstellung und Verknüpfung des Historischen keineswegs auf das, was er wirklich beherrscht: Die Spannung. Der Spannungsroman Suspense unterscheidet sich von anderen Krimi-Genres, weil es in einer solchen Geschichte nicht nur um die Ereignisse geht, die passieren, sondern auch um alles, was geschehen könnte. Es ist eine Geschichte über Protagonisten, die in Gefahr geraten, wenn sie versuchen, die Übeltäter aufzuhalten. Diese überhängende Furcht lenkt das Rätsel (den Fokus des Mysteriums) und die Katz-und-Maus-Jagd (den Bereich des Thrillers) vom Scheinwerferlicht ab. Vor allem aber betont die Spannung den richtigen Aufbau, wenn der Held (oder vorliegend: die Helden) versucht, den Bösewicht aufzuhalten und dabei am Leben zu bleiben. Suspense verwendet regelmäßig komprimierte Zeitrahmen, Prologe und vor allem die Einbeziehung des Standpunktes des Bösewichts, um eine Atmosphäre zunehmender Bedrohung zu verstärken. Der genannte Prolog wird hier vor allem durch die Tagebuchaufzeichnungen von De Quinceys Tochter Emily ersetzt, die sich aber keinen stilistischen Bruch erlauben (was häufig vorkommt), sondern die Geschichte nahtlos weitertreiben und so als ein weiteres Element der unterschiedlichen Perspektiven zu verstehen sind. Dadurch gelingt Morrell ein wirkliches Panorama. Emily De Quincey Gerade die 21-jährige Emily ist eine verführerische Mischung aus der Watson-Figur Doyles und Mina Murray von Bram Stoker. Über sie kann der Autor sehr gut auf die gesellschaftlichen Konventionen dieser Zeit eingehen. De Quinceys progressive Tochter, die eher Bloomers (Frauenhosen) als die angemessenen schweren Reifröcke trägt, harmoniert sehr gut mit ihrem Vater zusammen und sorgt durch ihre aufgeschlossene Art für eine weitreichende Dimension, ohne die der ganze Roman zusammenfallen würde. Die Morde von 1854 haben den gleichen Effekt wie die ursprünglichen Morde von 1811: Panik. Die Bevölkerung der Stadt ist verängstigt, und jeder ist verdächtig, besonders jeder, der anders ist. Ein Ausländer im Allgemeinen und ein Ire im Besonderen. Das Londoner Polizeipräsidium ist weniger als dreißig Jahre alt, klein, und die Wissenschaft oder die Kunst der Aufklärung – Lesen eines Tatorts, Forensik (Fußabdrücke usw.) – steckt noch in den Kinderschuhen. Der leitende Detektiv, einer von acht Beamten in Zivil in ganz London, der damals größten Stadt der Welt,  ist ein rothaariger Ire namens Detective Inspector Sean Ryan. Er verbirgt sein rotes Haar und damit sein irische Herkunft unter der Mütze eines Zeitungsjungen. Der Detailreichtum, den Morrell hier abfeuert, sorgt dafür, dass wir uns wirklich auf eine Reise begeben. Das ist es, was Literatur im besten Falle bewirken sollte. Kein Kostümfest, sondern ein Ausflug, der uns an den Ort und die Zeit des Geschehens transportiert.
15 minutes | 22 days ago
HÖRBUCH: Eric Basso - Der Pestarzt (Kapitel 1) | #38
Anmerkung des Übersetzung: Diese bahnbrechende und legendäre Geschichte  begann ich zu übersetzen, bevor Eric Basso überraschend am 10. Juni 2019 verstarb. Bisher konnte das Lizenzrecht nicht geklärt werden, so dass ich mein Vorhaben aufgeben musste. Tatsächlich gehe ich auch nicht davon aus, dass dafür in Deutschland einen Markt gegeben hätte, aber eine kleine Auflage für Kenner der Weird Fiction hätte mir eine gewisse Genugtuung verschafft. Ich erlaube mir dennoch, das erste Kapitel hier zu präsentieren. Ich verstehe das als einen Kulturauftrag. Wer die Novelle im Original lesen will, kann diese in Jeff & Ann VanderMeers The Weird finden.
13 minutes | 24 days ago
Der Ursprung der Geister und berühmte Darstellungen in der Literatur | #37
Seit der Mensch sich seiner selbst bewusst ist, scheint er sich auch der Geister bewusst zu sein. Das Konzept der Geister, aber auch der Geistergeschichten, lässt sich bereits in den Anfängen der Menschheitsgeschichte finden und fasziniert die Menschheit seit Generationen. Ein Rascheln in den Büschen, ein knarrendes Geräusch, und die Angst, die sich mit unserem Instinkt zum Überleben verbindet, lässt uns Dinge sehen oder fühlen, die vielleicht nicht da sind. Aber auch der Glaube, dass etwas jenseits des Todes existieren könnte, hält uns gefangen. Weitterführende Sendungen: Die Anfänge der Schauerliteratur Das Spukhaus Die Geschichte der Vampire Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Tranquility Base by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/4542-tranquility-baseLicense: https://filmmusic.io/standard-license Seit der Mensch sich seiner selbst bewusst ist, scheint er sich auch der Geister bewusst zu sein. Das Konzept der Geister, aber auch der Geistergeschichten, lässt sich bereits in den Anfängen der Menschheitsgeschichte finden und fasziniert die Menschheit seit Generationen. Ein Rascheln in den Büschen, ein knarrendes Geräusch, und die Angst, die sich mit unserem Instinkt zum Überleben verbindet, lässt uns Dinge sehen oder fühlen, die vielleicht nicht da sind. Aber auch der Glaube, dass etwas jenseits des Todes existieren könnte, hält uns gefangen. Was ist ein Geist? Was wir heute als Geist interpretieren, hat seine Wurzeln in den Mythen und Überzeugungen der alten Kulturen. Geister oder Gespenster waren und sind manchmal immer noch der Geist einer Person oder eines Tieres, der nach dem Tod des Körpers weiterexistiert. Es liegt zum Teil an diesem Glauben, dass viele Beerdigungsrituale ursprünglich stattfanden und praktiziert wurden, um zu verhindern, dass der besagte Geist auf der Erde verbleibt und die Lebenden verfolgt. Darüber hinaus wird an die Existenz von Geistern oft aufgrund der menschlichen Erfahrung festgehalten, sich verfolgt oder verflucht zu fühlen. Dieses Gefühl wird noch heute nicht gerade selten damit erklärt, sich in der Gegenwart von Geistern zu befinden. Dies kann vom Hören, Sehen, Fühlen, von seltsamen Wahrnehmungen bis hin zu anderen unerklärlichen, unheimlichen Ereignissen reichen. So wird beispielsweise ein unbelebtes Objekt, das sich von selbst und ohne Zutun bewegt, oft als durch einen Geist verursacht zitiert. Die ersten Geistergeschichten Geistergeschichten sind alles andere als ein zeitgenössisches Phänomen. Sie werden seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben, entweder mündlich oder durch das geschriebene Wort. Alte Kulturen glaubten, dass eine menschliche Seele oder ein Geist weiter existiert, wenn der physische Körper das längst nicht mehr tut, und dass es eine jenseitige Welt geben muss. Deshalb war das Erscheinen von Geistern in der lebendigen Welt ein traumatischer und verstörender Gedanke. Der Grund, warum ein Geist in die Welt der Lebenden übergehen sollte, war ein traumatisches Ereignis oder ein unerledigtes Geschäft. Man glaubte, dass dies in der Regel auf eine unsachgemäße Bestattung, Ungerechtigkeit oder die Notwendigkeit zurückzuführen war, dass der Tod gerächt werden musste; eine wirklich unangenehme Erfahrung für die Hinterbliebenen. Diese Geschichten wurden in alten Kulturen auf der ganzen Welt erzählt, von Japan bis Irland. Die Orestie, eine Trilogie griechischer Tragödien, die erstmals 458 v. Chr. aufgeführt wurde, erzählt die Geschichte von Mord, Rache und Gerechtigkeit. Die Trilogie, die weithin als Aischylos’ bestes Werk gilt, zeigt eine Figur namens Klytämnestra, einen weiblichen Geist, der Gerechtigkeit gegenüber ihrem Sohn sucht, der sie ermordet hat. Dies ist eine der ersten Erscheinungen eines Geistes in der Literatur und typisch für den altgriechischen Glauben an das Leben nach dem Tod und den Übergang der Geister in die Welt der Lebenden. Plinius der Jüngere Plinius der Jüngere erzählte seine berühmte Geistergeschichte um 100 n. Chr. und beweist damit, dass diese furchterregenden Geschichten seit mindestens zweitausend Jahren alltäglich sind. Seine Geschichte handelt von einem gespenstischen alten Mann mit einem langen Bart und rasselnden Ketten, der in einem großen Haus in Athen herumspukt. Obwohl diese Geschichte vor Tausenden von Jahren erzählt wurde, enthält sie alle wichtigen Bestandteile einer klassischen Geistergeschichte: ruhelose Geister, unerklärliche Geräusche und unheimliche Alpträume. In der modernen westlichen Kultur gehen wir davon aus, dass Geister typischerweise einem “unerledigten Geschäft” nachgehen. Das war bereits bei Plinius der Fall, der in seiner Geschichte erwähnt, dass der kettenrasselnde Geist erst seinen Frieden fand, als seine Leiche entdeckt wurde. Die Römer hatten viele Vorstellungen von Geistern, und obwohl nicht gesagt werden kann, dass sie alle an sie glaubten, kann man doch zu dem Schluss kommen, dass Geistergeschichten beliebt waren. Die Römer glaubten an zwei Arten von Geistern. Der Geist von Plinius fällt in die erste Kategorie, bekannt als “Lemure”. Diese wütenden Geister verfolgten und belasteten die Lebenden, wurden aber dennoch mit einer Reihe von jährlichen Festtagen geehrt. Im Gegensatz zu den “Lemuren” standen die “Manen”, Geister, die ihre nahen lebenden Verwandten führten und beschützten. Die oft als “Götter” bezeichneten Manen wurden mit dem “Parentelia”-Fest gefeiert und galten als in oder unter der Erde existierend. Um den “Manen” zu gefallen, brachten die Römer Opfer dar und ließen oft Speis und Trank an ihrem Grab zurück. Lukian von Samosata Der antike Satiriker Lukian von Samosata formulierte mit seinem Roman “Der Lügenfreund” den Unglauben an Geister. Lukian, geboren 120 n. Chr., war ein gelehrter Mann mit einem einzigartigen Sinn für Humor und nutzte seine akademischen Fähigkeiten, um seine Zeitgenossen zu verspotten. In diesem Roman zieht er von der Warte des gesunden Menschenverstandes und der Logik alle Register, um all jenen eins auszuwischen, die auch nur im entferntesten an das Übernatürliche glauben. In seiner Geschichte erzählt Lukian von einer Figur namens Demokrit, die in einem Grab vor den Stadttoren haust, nur um zu beweisen, dass Friedhöfe nicht von Geistern heimgesucht werden. Er berichtet, dass junge Einheimische versuchten, Demokrit zu erschrecken, indem sie sich in schwarze Roben und Totenkopfmasken kleideten, aber trotz dieser effektiven Witze weigerte er sich, an das Übernatürliche zu glauben. Auch wenn Lukian ein entschiedener Ungläubiger gewesen sein mag, ist es interessant, auf seine klassische Idee des Aussehens eines Geistes hinzuweisen, die bis heute Bestand hat. Berühmte Geister in der Literatur Ob er nun an Geister glaubte oder nicht, William Shakespeare war furchtlos in seinem Streben, sie zu einem integralen Bestandteil seiner Stücke zu machen. Während er sicherlich nicht der einzige Dramatiker war, der Geister in seinen Aufführungen zeigte, unterscheiden sich Shakespeares Geister in der Bedeutung ihrer Interaktion mit den Lebenden. Das früheste Shakespeare-Drama, das Geister vorstellt, ist Richard III., in dem der gleichnamige Charakter von den Geistern seiner Opfer heimgesucht wird. Diese Geister verspotten Richard mit den Geschichten über ihr Ableben und sagen voraus, dass er in seinem nächsten Kampf eine Niederlage erleiden wird. Es scheint dem Publikum so, als ob die Geister Richard in seinen Träumen erschienen sind, was die Beziehung zwischen Geistern und Alpträumen festigt. Wenn sie jedoch auf der Bühne aufgeführt werden, sind die Geister physisch präsent, besetzt mit Schauspielern, die sich an die klassische Geisterdarstellung halten; aufgehellte Haut und ein “untotes” Aussehen. Shakespeares Behandlung der Geister wurde als zentrales Werkzeug zum Erzählen von Geschichten verwendet, wie in seinem berühmten Stück Macbeth gezeigt. Auf völlig unkonventionelle Weise erscheint der Geist von Banquo nur Macbeth und ist für alle anderen Gäste unsichtbar. Shakespeare nutzt den Geist, um zu vermitteln, dass die Last von Banquos Mord allein bei Macbeth liegt. Hamlet, geschrieben zwischen 1599 und 1602, ist eine der berühmtesten Geistergeschichten der Literatur. Das Stück, das sich um Hamlets Wunsch dreht, Gerechtigkeit für den Mord an seinem Vater zu suchen, gilt als eines der mächtigsten literarischen Werke aller Zeiten. Wesentlich für die Handlung ist der Geist von Hamlets verstorbenem Vater. In den Bühnenanweisungen als “Geist” bezeichnet, erscheint der Geist nur dreimal im Stück und wirkt als Impulsgeber der Handlungen Prinz Hamlets. Shakespeares Darstellung des Geistes steht im Einklang mit alten Geistergeschichten, wo sie stets ein ungelöstes Verbrechen oder Ungerechtigkeit symbolisiert und vermittelt. Der Geist sucht Rache, um aus dem Fegefeuer befreit zu werden. Es sei darauf hingewiesen, dass es unter Akademikern und Dramatikern viele Diskussionen darüber gibt, ob der Geist wirklich eine Darstellung des verstorbenen Königs ist oder tatsächlich eine phantastische Erfindung des jungen Hamlet, aber Shakespeare hat im Grunde einfach wieder einmal das Konzept eines Geistes dazu genutzt, um eine ganze Erzählung voranzutreiben. Die Existenz des Geistes offenbart ebenso viel über das Innenleben der lebenden Charaktere wie über den verstorbenen König. Geister, die sich durch Shakespeares Jahre und darüber hinaus bewegen, begründen in der viktorianischen Zeit ihr eigens literarisches Genre. Charles Dickens Der Schriftsteller und Sozialkritiker Charles Dickens war sehr einflussreich, was die Etablierung der Beliebtheit der Geistergeschichte betrifft. Von David Copperfield bis Oliver Twist schuf er einige der berühmtesten fiktiven Figuren aller Zeiten. 1843 schrieb Charles Dickens mit “A Christmas Carol” die wohl berühmteste Geistergeschichte aller Zeiten, die die Wandlung von Ebeneezer Scrooge vom geizigen Geldgeber zu einem freundlichen und liebevollen Mann zum Inhalt hat. Die Geschichte wird in fünf Kapiteln, oder “Stäben” (Staves), wie Dickens sie nannte, erzählt. Er wird an Heiligabend von vier Geistern besucht, von denen jeder seine Wahrnehmung für die Welt um ihn herum öffnet. Zunächst wird er vom Geist seines ehemaligen Geschäftspartners Jacob Marley besucht. In schweren Ketten dargestellt und von Geldtruhen nach unten gezogen, versucht Marley Scrooge sein Schicksal zu zeigen, sollte er nicht seine gierigen und egoistischen Wege ändern. Ihm wird gesagt, dass er von drei Geistern (den Geistern der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weihnacht) besucht wird, denen er zuhören soll oder dazu verdammt sein wird, die Last von Ketten zu tragen, die noch schwerer sind als die von Marley. Wie Shakespeares Geist von Banquo erscheinen Dickens’ Geister ausschließlich Scrooge allein, die Erscheinungen reichen von einem unheimlichen kindlichen Mann bis hin zum phantomartigen Geist der zukünftigen Weihnacht. Charles Dickens selbst hatte ein persönliches Interesse an Geistern, wobei sein Freund und Biograph John Forster bemerkte, dass er leicht ganz vom Übernatürlichen hätte verzehrt werden können, wenn er nicht durch seinen eigenen gesunden Menschenverstand eingeschränkt worden wäre. Dickens erinnerte sich, dass ihm von seinem Kindermädchen Miss Mercy vor dem Schlafengehen als Kind schreckliche Geistergeschichten erzählt wurden. Als Teenager verschlang er Geistergeschichten und genoss es, sich bis ins Mark zu erschrecken. Als er ins Erwachsenenalter eintrat, wurde Dickens demgegenüber eher skeptisch, aber seine Fantasie wurde durch die Faszination für Geister in seiner Kindheit angeheizt. Die Erzählung “A Chrismas Carol”, die sich an nur einem Abend innerhalb einer einfachen und logisch gestrickten Struktur abspielt, veranschaulicht, dass Geistergeschichten am besten innerhalb einer Kurzgeschichte oder im Novellenformat funktionieren, auch heute noch. Kurze und prägnante Geschichten wie diese können leicht mündlich erzählt werden, wie viele andere der besten Geistergeschichten auch. So kommen wir zum Ende eines knappen Blicks auf die Ursprünge der Geister. Eine faszinierende Studie, die einen interessanten Punkt aufwirft, indem sie uns mehr über das Leben und Denken der Lebenden erzählt als über die Toten.
7 minutes | a month ago
Review: Elizabeth Kostova - Der Historiker | #36
Elizabeth Kostova bietet in ihrem Debüt eine kultivierte und denkwürdige Suche nach dem Grab Draculas. Längst schon ein moderner Klassiker, der moderne Schauerliteratur definiert. Weiterführend in den Tausend Fiktionen: Die Anfänge der Schauerliteratur Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Long Note Four by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/3991-long-note-fourLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript
9 minutes | a month ago
Tausend Fiktionen: Die verspätete Nullnummer | #35
Michael Perkampus (Host, Editor) Albera Anders (Fragen) Hallo, Freunde, draußen an den Radiogeräten. Mein Name ist Michael Perkampus und ich führe euch in Tausend Fiktionen durch dieses Programm. Durch welches Programm? Nun, das versuche ich euch kurz in dieser verspäteten Nullnummer darzulegen. Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript Die Tausend Fiktionen Lange Zeit war gar nicht klar, ob die Tausend Fiktionen bestand haben würden, ob Zeit und Enthusiasmus genügen, um ein langfristiges Angebot realisieren zu können. Oft genug scheiterte ich auch an der Technik selbst, denn es will doch so einiges bedacht werden, was zu Beginn noch gar nicht offensichtlich ist – und mir vielleicht auch heute noch nicht einleuchtet. Was als Zusatzprogramm zu den Artikeln im Phantastikon einst ausprobiert werden sollte, hat sich nun verselbständigt und zu meiner Überraschung wird der Podcast gut angenommen. Da ich das alles nicht geplant hatte, fielen die ganzen notwendigen Änderungen an, als viele Episoden schon längst öffentlich waren, und das ein oder andere gilt es noch immer zu verbessern. Aber im Wesentlichen bleibt die Sendung jetzt so. Es ist also an der Zeit, eine kleine Nullnummer auf den Weg zu bringen, typischerweise verspätet. Aber was hat Zeit schon für eine Bedeutung? Wie manche von euch wissen, ist es gar nicht so leicht zu durchschauen, was ich eigentlich mache. Bin ich jetzt Schriftsteller oder jemand, der über Literatur spricht? Man ist natürlich oft beides, aber in der öffentlichen Wahrnehmung hat es sich so eingebürgert, dass man entweder auf der einen oder auf der anderen Seite steht. In diesem Podcast steht das Relevante vor dem Aktuellen, obwohl es natürlich immer mal wieder aktuelle Bücher gibt, über die ich hier sprechen werde. Hauptsächlich aber beschäftige ich mich mit Autoren und Zusammenhängen, die man leicht übersieht, weil wir doch heute sehr auf Genres fixiert sind. Natürlich trefft ihr hier das Phantastische in der Literatur an, das aber nach meinem Dafürhalten viel weitreichender ist, als man das allgemein annimmt. Historische Kriminalromane gehören ebenso dazu wie großartige Fantasy, vom Feuilleton geschmäht wie fast alles, was nicht zum Mainstream gehört. In den Tausend Fiktionen versuche ich, kurze Einblicke zu geben und es spiegelt natürlich meine subjektive Meinung wieder und betrifft – wen wundert es – das, was mich selbst an der Literatur interessiert und fasziniert. Der Podcast entstand ja auch deshalb aus dem ehemaligen Phantastikon heraus – also dem Magazin für Phantastik, das von 2014 bis 2019 mit über 100 Autoren im Netz zu finden war – weil ich den unterschiedlichen Artikeln einen Mehrwert mit auf den Weg geben wollte, und Geschriebenes allzu oft links liegen bleibt. Literaturpodcasts sind seltener als etwa Buchblogs oder auch Booktuber. Dort zählen die persönlichen Belange viel mehr als die eigentliche Information, die dann meistens über den Klappentext nicht hinaus kommt. Ohne Frage sind die Tausend Fiktionen ein besonderer Literaturpodcast. Entertainment steht hier nicht an oberster Stelle, aber natürlich sollen die Inhalte interessant – und vor allem zeitlos sein. Denn eines ist gewiss: die ewige Jagd nach dem Neuen bedeutet in aller Regel, dass man sich der Jagd nach dem Belanglosen anschließt und das Bedeutsame auf der Strecke bleibt, weil morgen schon wieder ein anderer Tag mit anderen Veröffentlichungen ansteht. Tatsächlich kommen mit jedem neuen Jahr immer mehr Bücher heraus als im vorigen. Diese Schwemme bedeutet aber keineswegs, dass auch mehr gute Bücher erscheinen. Ganz im Gegenteil hat sich diese Zahl mit den Jahrzehnte kaum verändert. Man findet sie nur nicht mehr so leicht wie früher, weil der Morast immer tiefer wird und weil viele davon nur noch antiquarisch zu ermitteln sind. Das hindert mich allerdings nicht im Geringsten daran, sie zu preisen als wären sie jetzt erst erschienen. Oder, wie Arno Schmid sich einst ausdrückte: Sobald ein neues Buch erscheint, lies du ein altes. Neben Buchbesprechungen gibt es auch die Rubrik der Helden, Versager und anderer Ikonen – ein Überblick über die bekanntesten fiktiven Figuren der westlichen Welt. Ein Unternehmen, das allein schon erschöpfend wäre. Aber ich versuche auch, die Rechte für ausgewählte Geschichten zu bekommen, die ich als Hörbuch anbiete. Und wer weiß, was sich noch alles machen lässt. Natürlich lebt nicht nur ein Blog, sondern auch ein Podcast von Interaktion. Fühlt euch also so frei und teilt mir mit, wie ihr die einzelnen Themen seht. Das könnt ihr natürlich auch auf den unterschiedlichsten Plattformen tun. Die Tausend Fiktionen sind auf verschiedenen Verteilern vertreten. Eine stets aktuelle Liste findet ihr auf der Hauptseite phantastikon.de, wo ihr auch die Transkripte zu den Sendungen nachlesen könnt. Zum Schluss bleibt mir noch, ein paar grundlegende Fragen zu beantworten, die teilweise von dem Literaturkritiker Stefan Mesch stammen. Entworfen wurden sie für Buchblogger, aber einige von ihnen lassen sich auch auf andere Medien übertragen. AA: Was war das Lieblingsbuch deiner Mutter? MEP: Da ich meine Mutter nur acht Jahre lang kennen lernen durfte, ist das keine Frage, die ich wirklich beantworten kann. Da sie Lyrikerin war, gehe ich aber davon aus, dass es irgendein Gedichtband gewesen sein könnte. Möglicherweise Eichendorff oder sogar Goethe. AA: Was war das Lieblingsbuch deines Vaters? MEP: Mein Vater war ein Jerry Cotton-Leser, also das genaue Gegenteil von allem, was sich in unserem literarischen Haushalt, inklusive dem meines Großvaters so abspielte. Er wollte vor allem schnell durch die Lektüre kommen, ansonsten habe ich ihn nie mit einem Buch gesehen. AA: Warum betreibst du überhaupt einen Literaturpodcast? MEP: Die Tausend Fiktionen waren im Grunde ein Zusatzangebot zu einigen Artikeln, die es im alten Phantastikon zu lesen gab. Aber die Leute lesen natürlich kaum Artikel im Netz, die sich um Literatur drehen, außer natürlich jene, die von Freunden geschrieben wurden und sich durch eine einfache, naiven Sicht hervortun. Ich bin für den Mainstream zu komplex, also habe ich das Phantastikon eingestellt, obwohl ich mich natürlich weiter mit Literatur beschäftige. Da kam mir die Idee, ein spezifischeres Publikum zu suchen. Literatur und Radio gingen ja schon immer gut zusammen, und ich bin der Meinung, dass jene, die sich für ein bisschen Tiefe interessieren, auch gute Zuhörer sind. AA: Was machen die Tausend Fiktionen anders als andere Podcasts? MEP: Es gibt nicht so viele Literaturpodcasts. Daher ist es nicht besonders schwer, nahezu alles anders zu machen. Bei vielen steht das Entertainment an erster Stelle, was natürlich kein Fehler ist, aber man hört schon gleich, dass in den Tauend Fiktionen der Fokus ganz wo anders liegt. Und das ist ja erst der Anfang. Da gibt es noch einiges zu verbessern und auszuprobieren. AA: Wahr oder falsch: „Ich podcaste vor allem, weil ich mich über Bücher austauschen will und im persönlichen Umfeld nicht genug Menschen habe, mit denen ich das könnte.“ MEP: Es ist ein Irrglaube, dass man sich im Netz über Bücher austauschen könnte, zumindest so, wie ich mir das wünschen würde. Aber im privaten Umfeld ist es wahrscheinlich noch schlimmer. Ich podcaste vor allem, weil ich jenen, die es interessiert, einiges zu geben habe, was sie sonst nirgendwo bekommen. Das sind wenige, aber die gibt es. AA: Was ist dein persönlicher Geschmack und was sind deine Prinzipien beim Lesen und bewerten? MEP: Ein Buch führt zum nächsten Buch. Das ist eigentlich das einzige Prinzip, das ich habe. Gegenwartsliteratur interessiert mich zum Beispiel überhaupt nicht, vor allem nicht von deutschen Autoren. Im Bereich der Phantastik haben wir aber mittlerweile ebenfalls eine Handvoll, die international mithalten kann. Im Grunde verweigere ich mich der Zeitlinie und Aktualität, dem ganzen Modekram. Ein Bewertungssystem habe ich nicht. Man merkt sehr schnell, was ich von einem Buch halte, wenn man ein wenig Aufmerksam zuhört. AA: Wer hört dich? Hast du eine Zielgruppe? MEP: Der Podcast ist noch zu frisch, um sagen zu können, wer da zuhört. Dass es da aber bereits einen festen kleinen Stamm gibt, sehe ich ja an den Statistiken der Downloads, wobei die Dunkelziffer der Zuhörerschaft noch weitaus höher sein dürfte. Für große Podcasts wahrscheinlich lächerlich, aber eine große Community würde mich ohnehin skeptisch machen. Bei Youtube ist ja alles darauf angelegt, beim Podcasten funktioniert das alles etwas anders. AA: Werden dir von Verlagen Bücher angeboten? MEP: Im Phantastikon war das so und anfangs habe ich auch Exemplare angefordert, aber irgendwann habe ich das sein lassen. Es ist ziemlich klar, dass die Verlage die kleinen Dummerchen auf den Buchblogs oder Booktuber relativ günstig damit abspeisen, dass sie ihre Begeisterung zeigen. Denen geht es nicht um ehrliche Auseinandersetzung. Und ein Marketingtool bin ich ja nun wirklich nicht. Ich kann mir meinen Kram schon selber kaufen. Das wars von mir, ich hoffe, wir hören voneinander.
11 minutes | a month ago
Review: Stephen King - Blutige Nachrichten | #34
Stephen King – Blutige Nachrichten / Random House Verwendete Musik: Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Tranquility Base by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/4542-tranquility-baseLicense: https://filmmusic.io/standard-license EC-ComicsBlutige Nachrichten bei Random House Transkription Perfektion der Prosa Es kam in den letzten Jahren immer wieder vor, dass vor allem jene Fans, die King wegen seiner Horror-Element lieben, enttäuscht waren von dem, was er ihnen zu bieten hatte; nicht weniger als eine Perfektion seiner Prosa und eine meisterliche Beherrschtheit seiner Themen, die sich hauptsächlich um Sterblichkeit und Freundschaft drehen (während ein noch größeres Thema die Opferbereitschaft war und ist). Obwohl King schon immer ein außergewöhnlicher Autor war, legt er mittlerweile eine Perfektion an den Tag, die aus schierer Erfahrung resultiert. Stephen King beherrscht als Schriftsteller alles. Seine Romane können ausufern und mäandern, sie können kontrolliert sein, erschreckend, phantastisch, ungehobelt und fein gesponnen. Und wenige Romanciers beherrschen zudem noch die kurze Form, oder die Novelle. Nimmt man es genau, ist in “Blutige Nachrichten” vom titelgebenden Kurzroman über die längere Erzählung bis zur Kurzgeschichte alles vertreten, und es ist nach Frühling, Sommer, Herbst und Tod und Four Past Midnight (Langoliers / Nachts) die dritte Sammlung, in der vier Perlen auf einer Schnur aufgereiht sind. Warum also sollten viele Fans davon enttäuscht sein? Weil sie oft genug vergessen, dass Kings Werk vermuten lässt, dass Freundlichkeit oder eine kurze Phase der Zufriedenheit an den schrecklichsten Orten zu finden ist. Viele seiner Erzählungen, gerade der älteren, sind schwarz bis auf die Knochen, oft gab es dort keine Illusion der Hoffnung, aber meistens interessiert sich King dann doch für die Warmherzigkeit und das Mitgefühl, die der Dunkelheit am Rande der Grauzone trotzen. Sein Werk hat einen sowohl warmen Charakter als auch eine beruhigende Vertrautheit, die das Grauen im Innern mildert. Und das hat sich über die Jahre nicht unbedingt verstärkt, aber noch präziser herauskristallisiert. Jede der in “Blutige Nachrichten” versammelten Geschichten ist für King-Leser eine Rückkehr auf bekanntes Gebiet, aber zum größten Teil sind sie mit einem solchen Charme geschrieben, dass das Altbekannte in seiner Aufrichtigkeit erfrischend wirkt. Und in der Tat ist Aufrichtigkeit ein Schlüsselelement dieser Geschichten. Blutige Nachrichten Die Titelgeschichte, in der Holly Gibney, die Privatdetektivin, die sich in der Bill-Hodges-Trilogie und in The Outsider vom einer Handlangerin zur Heldin entwickelt hat, erneut auftritt, ist die längste Geschichte der Sammlung. Das erste Soloabenteuer von Holly wurde aus verschiedenen Gründen mit Spannung erwartet. Dabei handelt es sich zwar nicht um eine direkte Fortsetzung von The Outsider, die geschilderten Ereignisse knüpfen jedoch direkt daran an. Hollys Detektei Finders Keepers konzentriert sich gewöhnlich auf entlaufene Hunde und Kautionsflüchtlinge, und das ist für Holly genau das richtige Umfeld, denn sie ist alles andere als eine Action-Heldin. Ihre Schrullen sind es, die sie zu einer so brillanten Figur machen, sensibel gezeichnet und realistisch durchdacht. Wie ihre Diagnose genau lautet, wissen wir nicht, nur so viel, dass sie höchst ängstlich ist. Mehr müssen wir aber auch nicht wissen, denn tatsächlich laufen die meisten Menschen, die an einer psychischen Grunderkrankung leiden, jahrelang undiagnostiziert durchs Leben, und wenn, sind die Diagnosen meistens falsch. Häufig gehen die Neurosen oder Kämpfe der Menschen auf Ereignisse in ihrer Kindheit und auf die Beziehungen zu ihren Eltern zurück. King zeigt, dass er wie kein anderer weiß, was seine Aufgabe als Schriftsteller ist. Wir erhalten Einblicke in Hollys frühere Welt und erfahren mehr über die Beziehung zwischen ihr und ihrer Mutter, die ein Haupteinfluss für Hollys Problematiken ist. Die Figurenzeichnung ist präzise und emotional, und das ist ein Hauptmerkmal der ganzen Erzählung, die in der Tat kein Feuerwerk ist, sondern eher eine Vitrine, in der man einem Großmeister bei seiner Arbeit zusehen kann. King beherrscht Komplexität gekonnt. Holly mag als eine verletzliche Figur erscheinen, als wäre sie aus Glas, aber die Tapferkeit und der Mut, den er ihr zugesteht, sind das, was die Dinge wirklich antreiben. Man will ihr die Hand reichen und sie beschützen, sie abschirmen; aber King schreit den Leser an: “Wagen Sie es nicht, sie ist die Heldin und beschützt Sie vor den Monstern”. Herauszufinden, ob es ihr gelingt, ist die ganze Freude bei der Lektüre dieser Geschichte. Mr. Harrigans Telefon “Mr. Harrigans Telefon” verdankt den EC-Comics und den Twilight-Zone-Episoden, die der Autor immer wieder als seine frühen Inspirationen bezeichnet hat, offensichtlich sehr viel. Und wieder zeigt King, dass er auch Figuren in der ersten Person brillant zeichnen kann. Manchmal ist es so, als würde man einer Autobiographie folgen, so gut kennt er seine Charaktere, die man – und das wiederhole ich immer wieder – nirgendwo authentischer finden wird. Es ist nicht die einzige Geschichte mit einem gewissen Maß an Nostalgie (die nächste ist es nicht weniger), wenn der Meta-Kommentar darin enthalten ist, wie schnell sich die Dinge innerhalb von 15 Jahren verändert und entwickelt haben. Die Hauptfigur, Craig, erzählt die Geschichte als Erwachsener. Die Wahl, die Geschichte in der jüngsten Vergangenheit anzusiedeln, zeigt, wie ernst King jeden Teil seines Handwerks nimmt. Wir denken, dass wir uns an ein, zwei Jahrzehnte spielend erinnern können, aber wenn es darum geht, die Tatsachen zu überprüfen, würden wir uns wahrscheinlich schwer tun. King bleibt relevant, weil er ein geschärftes Auge auf die Dinge wirft; diese Erzählung zeigt, dass er nicht so sehr ein Satiriker ist (für ihn steht die Geschichte immer an erster Stelle), sondern ein Mensch, der genug Veränderungen erlebt hat, um uns davon zu erzählen. Die Geschichte spielt in den frühen Jahren der mobilen Technik, hat aber eine so zeitlose Stimme, dass das mobile Telefon bereits ein unheimliches, anachronistisches Objekt zu sein scheint, noch bevor der überkandidelte Blödsinn, den wir heute haben, einsetzt. Chucks Leben Wenn “Mr. Harrigans Telefon” an Kings frühe Romanen erinnert, dann ist “Chucks Leben” eine angemessene Darstellung seiner späteren literarischen Experimente. Die Geschichte wird in drei verschiedenen Teilen erzählt, von denen jeder in einem anderen Genre angesiedelt ist, durch die King den Leser auf eine umgekehrte Tour durch Momente in Chucks Leben von der Schwelle zur Sterblichkeit zurück in seine Kindheit führt. Der erste Teil ist ein apokalyptischer Alptraum, der durch einen netten metaphysischen Trick mit Chucks bevorstehendem Tod verbunden ist, während der letzte Teil einen Blick auf seine Kindheit in einem einzigartigen Spukhaus wirft. Aber es ist der Mittelteil, der am hellsten strahlt, als ein Stück emotional getriebener, nostalgischer Charakterarbeit, die Art von Schreiben, die King am häufigsten dann gelingt, wenn er gerade außerhalb des Horror-Genres arbeitet. Hier begegnen wir Chuck im frühen mittleren Alter, als sich sein Weg mit einer einsamen jungen Frau und einem Straßenmusiker kreuzt. Ihre kurze Begegnung ist nicht lebensverändernd oder gar besonders bedeutsam, aber es ist die Vergänglichkeit des Augenblicks, die der Vignette eine solche Schärfe verleiht. Die Regeln von Chucks Welt sind vorübergehend außer Kraft gesetzt, und die Geschichte bietet einen vorbehaltlos positiven Moment des menschlichen Engagements. King ist in der Lage, aus so kleinen Begebenheiten Freude zu zaubern, dass sich der Leser fragt, wie der Trick zustande kam. Ratte Und wenn das Schreiben eine Art Magie oder seltsame Alchemie ist, dann erforscht die letzte Geschichte in Kings Sammlung sowohl die hellen als auch die dunklen Hälften dieser Verzauberung. Die titelgebende Ratte sieht die Version des treuen (und wiederkehrenden) fiktiven Stellvertreter des Autors in einer Hütte im Wald für kurze Zeit sein Domizil errichten. Drew ist dort, um einen Roman zu schreiben, etwas, das ein erhebliches Risiko birgt, da frühere Versuche ihn fast in den Wahnsinn getrieben haben. Während anfangs alles gut läuft, ziehen bald (sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne) Gewitterwolken auf. Ein unkluger Handschlag und die Anwesenheit einer seltsam gesprächigen Ratte verwandeln die Geschichte von der Angst eines Schriftstellers in ein faustisches Schnäppchen. “Ratte” ist Kings bester Versuch, den Druck und die Klaustrophobie des Schreibprozesses seit Misery (Sie) zu vermitteln. Wir spüren Drews Aufregung über das leere Blatt und die endlosen Möglichkeiten, die es bietet. Es ist eine Aufforderung zu den (kreativen) Waffen. Die ersten 30 Seiten lassen vielleicht Sehnsucht nach einer eigenen Hütte im Wald aufkommen, um frei von den Verpflichtungen eines normalen Lebens zu sein. King schreibt mit absoluter Klarheit über die schriftstellerische Frustration und vergleicht sie in einem denkwürdigen Bild mit Drews Sohn Brandon, der fast an einer Tomate erstickt: “So ähnlich ist es bei mir”, sagte er. “Nur dass es bei mir im Hirn steckt statt im Hals. Ich ersticke zwar nicht richtig, aber ich bekomme nicht genügend Luft. Deshalb muss ich das Ganze zu Ende bringen.” Als Drew anfängt, “seine Worte zu verlieren”, und seine Möglichkeiten sowohl kreativ als auch in Bezug auf das Überleben eingeschränkt werden, verwandelt sich “Ratte” in eine poetische Geschichte von Wahnsinn, Isolation und Besessenheit. Jeder, der jemals all seine Bemühungen in ein persönliches, kreatives Projekt gesteckt hat, wird Drews Perspektivenverlust erkennen, sobald der Roman damit beginnt, allumfassend zu werden.
10 minutes | a month ago
Alfred E. Neumann (Das rätselhafte Mondgesicht) | #33
Alfred E. Neumann ist eine der rätselhaftesten Figuren der gesamten Popkultur. Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript Der Gründer des MAD-Magazins Harvey Kurtzman erinnerte sich in einem Interview an die Illustration eines grinsenden Jungen, den er Anfang der fünfziger Jahre auf einer Postkarte entdeckt hatte: “Das Portrait eines Kürbisgesichts. Sein Blick teilweise der eines Besserwissers, teilweise der eines glücklichen Kindes. Darunter stand: “What, Me Worry?”. (Was, ich und besorgt?; eingedeutscht: “Na und?”) Mad Magazine N. 30 von 1956 In die Ecken der frühen Ausgaben von MAD setzte Kurtzman das Na-und–Gesicht als visuelles Miniaturmotiv ein, das am Rande der dicht gepackten Schwarz-Weiß-Seiten der Publikation auftauchen würde. Als Al Feldstein 1956 die redaktionelle Kontrolle von Kurtzman übernahm, machte er den Jungen zum neuen Aushängeschild der Vollfarbzeitschrift. Maskottchen waren inzwischen zu einem Prestigepunkt geworden: Der Playboy hatte sein Häschen, Esquire hatte den großäugigen Mr. Esky. “Ich entschied mich, dass ich dieses visuelle Logo als Aushängeschild von MAD haben wollte, so wie Unternehmen den Jolly Green Giant und den Hund, der für RCA ins Grammophon bellt”, sagte Feldstein 2007. Feldstein gab das erste Titelbild bei Norman Mingo in Auftrag. Als sechzigjähriger Veteran der kommerziellen Illustration war Mingo auf Pin-ups im Vargas-Stil und rockwelleske Darstellungen der amerikanischen Mittelklasse-Kultur spezialisiert. Er befand sich kurz vor dem Ruhestand, als er auf die Anzeige der New York Times reagierte, die ILLUSTRATOR WANTED lautet. Er schreckte zunächst zurück, als er zum ersten Mal den Hauptsitz des Magazins in 485 “MADison Avenue” besuchte, aber sein üppiger Stil passte perfekt zu der aufkeimenden Publikation, und er brauchte die Arbeit. Beginnend mit dem Neumann-Auftrag malte er in den nächsten zwanzig Jahren die meisten Cover von MAD. Feldstein sagte Mingo, dass er nicht wollte, dass der Junge “wie ein Idiot aussieht – ich will, dass er liebenswert ist und eine Intelligenz hinter seinen Augen leuchtet. Aber ich will, dass er diese zum-Teufel-Einstellung hat, dass er jemand ist, der seinen Sinn für Humor bewahrt, selbst wenn die Welt um ihn herum zusammenbricht.” Der Antikamnia-Kalender von 1905 (via madtrash.com) In Completely Mad, einer umfassenden Geschichte der Zeitschrift von 1992, berichtete die Schriftstellerin und Forscherin Maria Reidelbach von einer Anzeige für Atmores Hackfleisch und echtem englischen Pflaumenpudding, die sie gefunden hatte, von einem sehr frühen Neumann, der dadurch bis 1895 zurückverfolgt werden konnte. “Die Gesichtszüge des Kindes sind ausgereift und unverwechselbar”, schrieb Reidelbach, “und das Bild wurde sehr wahrscheinlich von einem noch älteren Archetypus aufgenommen, der noch nicht gefunden wurde.” Peter Reitan glaubt nicht an unauffindbaren Archetypen. Reitan ist Patentanwalt mit Sitz in Irvine, Kalifornien, und widmet seine Freizeit der Erforschung arkaner Fäden der Popkultur. Unter dem Pseudonym Peter Jensen Brown sammelt er seine Arbeiten in einer Reihe von persönlichen Blogs. Ende 2012 durchsuchte Reitan die Online-Zeitungsdatenbank Chronicling America nach Informationen über die Cuban Giants, dem ersten afroamerikanischen Profi-Baseballclub. (Frühe Sportgeschichten sind eine weitere Spezialität von Reitan.) Beim Scannen einer Seite aus einem alten Los Angeles Herald bemerkte er, dass ihm ein vertrautes Gesicht aus einer Ecke angrinste. Das zottelige Haar, der fehlende Zahn – Neumann. Eine Bildunterschrift unter dem Gesicht lautet: “Was nützt irgendetwas? Nichts!” Es warb für ein Theaterstück namens The New Boy. Die Anzeige war vom 2. Dezember 1894. Reitan war als Junge ein MAD-Leser gewesen, wusste aber nichts von der anhaltenden Debatte über Neumanns Herkunft. “Das Bild zu finden, hat mich verwundert”, sagt er, “und dann, als ich nachsah, fand ich in einem Blog einen Eintrag, der zu Maria Reidelbachs Buch und der Pflaumenpuddinganzeige von Atmore führte … Da dachte ich, ich könnte da an etwas dran sein.” Brooklyn Daily Eagle, February 2, 1896. Wie Reitan betont, war die Werbung wahrscheinlich in jeder Stadt zu sehen gewesen, in der die Show während eines Zeitraums von fünf Jahren halt machte, was die Allgegenwart des Jungen erklärt. Bald wurde er für politische Karikaturen und für Werbung genommen, darunter die von Atmores Pflaumenpudding. Jedes neue Auftauchen lud eine weitere Welle von Nachahmern ein: Der Charakter spaltete und vermehrte sich, stärkte seine Potenz als Meme und verdunkelte jede bestimmte Herkunft.
9 minutes | a month ago
Arthur Conan Doyle - Spiritist und Gentleman | #32
Weiterführende Episoden: August Dupin vs. Sherlock HolmesEine kleine Geschichte des Kriminalromans Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Tranquility Base by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/4542-tranquility-baseLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript Der vielseitige Schriftsteller Während der Schriftsteller und Arzt Sir Arthur Conan Doyle heute bei den meisten für seinen logisch denkenden Skeptiker Sherlock Holmes bekannt ist, wissen die Horrorbegeisterten aus aller Welt, dass er mit seiner bösartigen Mumie eine der besten Geistergeschichten der englischen Literatur verfasste und erkennen in ihm einen Vorfahren der Lovecraft unterstellten Weird Fiction. Tatsächlich ist Arthur Conan Doyle für die Mumie das, was Stoker für den Vampir ist, und seine Geschichten von spitzhackenschwingenden Serienmördern, gespenstischen Folterinstrumenten, Geistern am sonnenlosen Nordpol, verfluchten Werwölfen, gelatineartigen Monstern am Himmel über uns und verunglückten Séancen, sind genauso kühl vorgetragen wie die Holmes-Abenteuer spannend sind.  Der enorme Erfolg dieser Detektivgeschichten erlaubte es Arthur Conan Doyle, 1891 seine medizinische Praxis aufzugeben und sich dem Schreiben zu widmen. Sein Schaffen war breit gefächert: Theaterstücke, Verse, Memoiren, Artikel über Sport, Kurzgeschichten, historische Romane und schließlich Schauerromane und Schriften über Spiritualismus. Sein erfolgreichstes Werk blieb jedoch Holmes, sehr zu seiner späteren Frustration. Das Vorbild für Sherlock Holmes Es mag überraschen, dass der Schöpfer dieser beständigsten Ikone der englischen Literatur überhaupt nicht Engländer, sondern Schotte war. Arthur Conan Doyle wurde 1859 in Edinburgh geboren und als kleines Kind in ein katholisches Internat geschickt. Wie eine Reihe schottischer Jungen aus der Mittelschicht seiner Generation entschied er sich für ein Medizinstudium und trat 1876 in die Medizinische Fakultät von Edinburgh ein. Einer jener Professoren dort war ein Experte in medizinischer Diagnostik namens Joseph Bell, der die Inspiration für den Meisterdetektiv Holmes gewesen zu sein scheint. Bell behauptete nicht nur, die Krankheit eines Patienten aus wissenschaftlicher Beobachtung diagnostizieren zu können, sondern auch seinen Hintergrund und seine Arbeit daraus folgern zu können – er notierte sorgfältig solche Details wie den Gang eines Seemanns oder die schwieligen Hände eines Hausmädchens und benutzte sie, um ein Porträt dessen zu erstellen, was schließlich zu einer Erkrankung geführt hatte. Conan Doyles Autobiografie erinnert auch an den Einfluss seiner Mutter, die selbst eine talentierte und lebendige Geschichtenerzählerin war. Arthur Conan Doyles leidenschaftliche Bemühungen um das Irrationale sind in den Sherlock Holmes-Geschichten und Novellen nicht zu erkennen. Vielleicht sind diese Werke deshalb so beliebt im Gegensatz zu seiner Schauerliteratur, die vor Überzeugung und Rhetorik geradezu strotzt, denn trotz der dramatischen Inszenierung rationalistischer Geisteskraft, die seine Karriere bestimmen sollte, war der Autor ein abergläubischer Mensch, was Sherlock Holmes’ Atheismus kaum vermuten lässt. Noch überraschender ist jedoch, dass er ein unverbesserlicher Imperialist mit einer hasserfüllten Besessenheit gegenüber Ägypten war, einem Land, das er 1893 nur einmal besuchte und in das er nie zurückkehrte. Dieser Mangel an direkter Erfahrung mit Ägypten oder seiner Kultur hat Doyle nie daran gehindert, eindringliche (und wie sich herausstellen sollte, einflussreiche) Meinungen über Relikte des alten Ägypten zum Besten zu geben, die in den späten 1800er Jahren dank der Effizienz und Anstrengung der englischen Archäologen immer häufiger ausgegraben wurden. Während Doyle 1896 schrieb, dass er die ägyptische Zivilisation selbst “verachtenswert” und “entmannt” fand, war er weiterhin begeistert von den Mumien, Pyramiden und Schriftrollen, die gefunden wurden, und nahm sie weiterhin als Requisiten in seine Geschichten auf. Conan Doyle und der Spiritismus Die Familie Doyle war streng katholisch. Arthur Conan Doyle wuchs zwar in einem streng katholischen Milieu auf, stellte dieses aber schnell in Frage, erklärte sich selbst zum Agnostiker und zeigte ein starkes Interesse am Spiritismus. 1881 besuchte er eine Vorlesung über dieses Thema und 1887 erschien ein Artikel von ihm in einer spiritistischen Zeitschrift, in dem er eine Séance beschrieb, an der er teilgenommen hatte, und 1889 versuchte Professor Milo de Meyer bei seiner Vorlesung über Mesmerismus, Doyle zu hypnotisieren, was ihm jedoch nicht gelang, und erst 1893 trat Conan Doyle der British Society for Psychical Research bei, die ihre Mitglieder aus den höchsten Kreisen der Politik und Wissenschaft rekrutierte. 1894 dann bat ein gewisser Colonel Elmore die Organisation, die mysteriösen Geräusche zu untersuchen, die ihm in seinem Haus in Dorset immer wieder den Nerv raubten. Sogar der Familienhund weigerte sich, bestimmte Teile des Hauses zu betreten, fast seine gesamte Dienerschaft hatte bereits gekündigt. Auch Elmores Frau und seine Tochter bestätigten, dass sich die Geräusche anhörten, als würden Ketten über den Holzboden geschleift, begleitet von einem Stöhnen. Conan Doyle, Dr. Sydney Scott und Frank Podmore wurden entsandt, um den möglichen Spuk zu untersuchen. Sie verbrachten mehrere Abende im Haus, doch ihre Ergebnisse waren nicht schlüssig. Eines Nachts wurden die Ermittler durch einen “furchterregenden Aufruhr” gestört, aber es konnte keine Ursache für den Lärm festgestellt werden. Conan Doyle verließ das Haus in Dorset im Unklaren darüber, ob es  dort wirklich spukt oder ob der Spuk nur ein Scherz war. Später wurde die Leiche eines etwa zehn Jahre alten Kindes entdeckt, das im Garten vergraben lag. Conan Doyle kam zu der Überzeugung, dass er tatsächlich Zeuge psychischer Phänomene geworden war, verursacht durch den Geist des toten Kindes. Erst im Oktober 1917 hielt Arthur Conan Doyle seinen ersten öffentlichen Vortrag über Spiritismus. Er wollte seine gemachten Erfahrungen zum Wohle der Menschheit anbieten. Obwohl er wusste, dass sein Ruf und seine Karriere darunter leiden könnten, wurde er ein unverblümter Befürworter der Bewegung. Er schrieb Bücher, Artikel und trat unzählige Male öffentlich auf, um für seine Überzeugungen zu werben. Seine unbekümmerte Art und sein absolutes Vertrauen in die Bewegung machten ihn zu einem wirksamen Redner. Er war so aufrichtig, dass sogar die Gegner des Spiritismus seinen Aktionen wohlwollend gegenüber standen. Ein Zitat zu dieser Zeit sagte folgendes über ihn aus:  “Armer, lieber, liebenswerter, leichtgläubiger Doyle! Er war ein Riese von Gestalt mit dem Herzen eines Kindes”. The Cottingley Fairies Aus der englischen Wikipedia Der bereits angeschlagene Ruf von Conan Doyle erreichte Ende 1920 einen neuen Tiefpunkt. In der Dezemberausgabe des Magazins The Strand erschien ein Artikel von Conan Doyle über einige außergewöhnliche Fotos. Zwei junge Damen aus dem Dorf Cottingley in der Grafschaft Yorkshire machten einige Aufnahmen von Feen, die sie in der Umgebung ihres Landhauses gesehen haben wollten. Arthur Conan Doyle erfuhr Anfang des Jahres von den Fotos und begann, die Angelegenheit zu untersuchen. Negative der Fotos wurden zur Prüfung an zwei Orte geschickt. Die Londoner Vertreter von Kodak erklärten, dass niemand diese Fotos manipuliert habe, dass aber die Herstellung solcher Effekte nicht besonders schwer sei und sie deshalb nicht für ihre Echtheit garantieren könnten. Von dem anderen Experten, der die Negative untersucht hatte, bekam Doyle jedoch einen positiven Bescheid. Harold Snelling erklärte die Fotos für echt, und so schloss sich Doyle dieser Meinung an. Diese Fotos wurden als The Cottingley Fairies bekannt. Vielleicht beeinflusst durch die Tatsache, dass sein eigener Sohn Kingsley 1918 bei der großen Epidemie der Spanischen Grippe erlag, investierte Doyle fiel Geld und Zeit in diese Dinge, die offensichtlich seinem Ruf schadeten. Nach dem Tod des Autors im Jahr 1930 füllte sich die Royal Albert Hall mit Fans, die an einer großen Séance zu seinen Ehren teilnahmen. Zu diesem Zeitpunkt war seine literarische Unsterblichkeit jedoch bereits gesichert: Laut dem Guinness-Buch der Rekorde ist Sherlock Holmes die meistdarsgetellte Film- und Fernsehfigur aller Zeiten.
18 minutes | a month ago
Eine kleine Geschichte des Kriminalromans | #31
Die Geschichte des Kriminalromans bietet eine schier unendliche Fülle von Entwicklungen. Wer sich verwundert fragt, warum etwa ein Sam Spade oder ein Philipp Marlowe (nur um einige zu nennen) hier nicht genannt werden, dem sei gesagt, dass es hier vor allem um die Entwicklung des Genres aus dem viktorianischen Zeitalter heraus geht. Wie in der Sendung erwähnt, wird sicher noch ergänzendes Material geliefert, natürlich immer vorausgesetzt, dass ein gewisses Interesse an der Materie besteht. Links: Dorothy L. SayersAgatha ChristieNewgate-KalenderWilkie Collins: Der Monddiamant Weiterführend auf Tausend Fiktionen: Auguste Dupin vs. Sherlock HolmesDie Anfänge der Schauerliteratur Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Lobby Time by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/3986-lobby-timeLicense: https://filmmusic.io/standard-license Spy Glass by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/4410-spy-glassLicense: https://filmmusic.io/standard-license Backbay Lounge by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/3408-backbay-loungeLicense: https://filmmusic.io/standard-license Air Of Mystery by chilledmusicLink: https://filmmusic.io/song/7119-air-of-mystery-License: https://filmmusic.io/standard-license Atmosphere Of Intrigue by Brian Holtz MusicLink: https://filmmusic.io/song/7084-atmosphere-of-intrigueLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript Rätselgeschichte oder Kriminalroman? Genrebeschreibungen sind selten eine klare Sache, aber nur deshalb kann man überhaupt darüber diskutieren. Wäre immer alles klar und für jeden ersichtlich, würde ein Lexikoneintrag genügen und der Fall wäre abgehakt. Heute widmen wir uns dem wohl beliebtesten literarischen Genre überhaupt. Dem Kriminalroman. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass es niemals eine erschöpfende Aussage über ein Genre geben kann, und so ist auch dies hier nur eine kleine Übersicht. Es gibt so viele verschiedene Arten von Kriminalromanen, dass sich bereits in den 1920er Jahren eine der ersten “Queens of Crime”, Dorothy L. Sayers, beschwerte: “Es ist unmöglich, den Überblick über alle Krimis zu behalten, die heute produziert werden. Buch um Buch, Magazin um Magazin strömen aus der Presse, vollgestopft mit Morden, Diebstählen, Brandstiftungen, Betrügereien, Verschwörungen, Problemen, Rätseln, Mysterien, Nervenkitzel, Verrückten, Gaunern, Giftmördern, Fälschern, Würgern, Polizisten, Spionen, Geheimdienstlern, Detektiven, bis es so aussieht, als müsse die halbe Welt damit beschäftigt sein, Rätsel zu erfinden, damit die andere Hälfte sie lösen kann.” Wir aber beginnen unseren kleinen Rundgang mit einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Rätselgeschichte und Kriminalroman, bevor wir uns einige historische Daten näher ansehen. Beschäftigt man sich nicht ausschließlich mit deutschen Begrifflichkeiten, bietet es sich von vorneherein an, die hierzulande gebräuchlichen Genreumschreibungen nahezu allesamt zu verwerfen. Das Englische ist die literaturwissenschaftliche Leitsprache für populäre Literatur, daran ändern auch die länderspezifischen Eigenheiten nichts. Eines von vielen Beispielen ist die Mystery Fiction, also die “Rätselgeschichte”, die bei uns kaum als Begriff verwendet wird. Stattdessen wird der englische Begriff “Mystery” behalten und für eine Form der phantastischen Erzählung verwendet, die eigentlich der Weird Fiction nahe steht, während “Mystery Fiction” zur Kriminalliteratur wird. Das wäre in Wahrheit die Crime Fiction, die sich aber von der Mystery Fiction wiederum unterscheidet. In der “Rätselgeschichte” wird ein Verbrechen begangen. Das ist zwar häufig ein Mord, aber nicht immer. Die Handlung schreitet voran und zeigt, wie das Verbrechen aufgelöst wird: Wer hat es getan und warum? (Der Fairness halber muss gesagt werden, dass sich daraus wiederum zwei Subgenres ableiten lassen: Whodunit und Whydunit). Die besten Rätselgeschichten erforschen oft die einzigartige Fähigkeit des Menschen zur Täuschung – insbesondere der Selbsttäuschung – und zeigen die Grenzen des menschlichen Verstandes auf. Tatsächlich wird dieses Genre als das intelligenteste der Spannungsliteratur angesehen. Gewalt ist hier nicht die treibende Kraft, sondern das Spiel des Intellekts. Wie können wir überhaupt so etwas wie Wahrheit erkennen? Ein Mysterium ist per definitionem etwas, das sich dem üblichen Verständnis entzieht, und vielleicht ist das der Grund, warum “Mystery” im deutschen Sprachgebrauch eine abgeschwächte Form der Horrorliteratur bezeichnet. In der eigentlichen Kriminalgeschichte liegt der Schwerpunkt auf dem Willenskonflikt zwischen dem Helden des Gesetzes und dem Gesetzlosen, sowie auf ihren unterschiedlichen Ansichten über die Moral und die Aspekte der Gesellschaft, die sie repräsentieren. Die besten Kriminalgeschichten handeln von einer moralischen Abrechnung des Helden mit seinem ganzen Leben oder bieten eine neue Perspektive auf das Spannungsverhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum. Was ist eine gerechte Gesellschaft? Die Erzählwelt des Romans ist aus dem Gleichgewicht geraten, irgendwo zwischen einem Naturzustand (wo Chaos herrscht und diejenigen mit Geld und/oder Waffen die Macht ausüben) und einem Polizeistaat (wo Paranoia herrscht und der Staat die Macht monopolisiert). Der Held hofft, dieses Ungleichgewicht in irgendeiner Weise zu korrigieren. Andere moralische Themen können die Herausforderung von Anstand, Ehre und Integrität in einer korrupten Welt sein, die individuelle Freiheit gegenüber Recht und Ordnung, und das Spannungsfeld zwischen Ehrgeiz und Verpflichtungen gegenüber anderen. Zur Geschichte des Kriminalromans Schauen wir uns jetzt etwas in der geschichtlichen Entwicklung des Genres um. Obwohl es leicht die ein oder andere Seite zu finden gibt, die behauptet zu wissen, was wirklich der erste Krimi der Weltgeschichte war, ist es fast unmöglich, so ein Kunstwerk tatsächlich zu benennen. Manchmal wird sogar die Geschichte von Kain und Abel genannt, und in diesem Fall wäre wohl Gott der Detektiv. Da er allerdings allwissend ist, ist das keine große Sache. Den “drei goldenen Äpfeln” aus Tausendundeiner Nacht wird ebenfalls manchmal die Ehre zuteil, aber ob es sich dabei auch nur im entferntesten Sinne um einen Krimi handelt, ist fraglich, da der Protagonist keine Anstrengungen unternimmt, das Verbrechen aufzuklären und den Mörder der Frau zu finden. Deshalb behaupten wieder andere, der Pokal sollte an ein anderes Märchen mit dem Titel “Die drei Prinzen von Serendip” übergehen, einem mittelalterlichen persischen Märchen, das auf Sri Lanka spielt (Serendip ist der persische Name für diese Insel). Die Prinzen sind hier die Detektive und finden das vermisste Kamel eher durch Zufall (oder durch ihre “Serendipität”; dieses Wort wurde von Horace Walpole, dem Autor der ersten Gothic Novel, geprägt und ist seither in Gebrauch. Es bezeichnet wertvolle Dinge, nach denen man nicht gesucht hat und auf die man aus heiterem Himmel stößt). Der erste Kriminalroman Die erste moderne Kriminalgeschichte wird Edgar Allan Poe und den “Morden in der Rue Morgue” (1841) zugeschrieben, aber in Wirklichkeit ist E. T. A. Hoffmanns “Das Fräulein von Scuderi” mehr als zwanzig Jahre älter. Es gibt auch eine Erzählung mit dem Titel “The Secret Cell” aus dem Jahr 1837, die von Poes eigenem Verleger William Evans Burton geschrieben wurde und einige Jahre älter ist als “Die Morde in der Rue Morgue” und ein frühes Beispiel für eine Detektivgeschichte darstellt. In dieser Erzählung muss ein Polizist das Geheimnis eines entführten Mädchens lösen. Als erster Kriminalroman wird oft “Der Monddiamant” (1868) von Wilkie Collins genannt, “Das Mysterium von Notting Hill” (1862) von Charles Warren Adams ist ihm jedoch fünf Jahre voraus und somit der tatsächlich erste Kriminalroman, zumindest wenn man den Literaturwissenschaftlern glauben mag. In aller Regel sollte man das nämlich nicht so sehr, schließlich hatte Voltaires mehr als ein Jahrhundert vorher erschienener “Zadig” (1748) keinen unerheblichen Einfluss auf Poe und seinen C. Auguste Dupin. Andere erwähnen Dickens’ Roman “Bleak House” (1853) als einen wichtigen Meilenstein in der Entstehung des modernen Kriminalromans, da er mit Inspektor Bucket einen Detektiv einführt, der den Mord an dem Anwalt Tulkinghorn aufklären muss, wobei das detektivische Geschehen nur den letzten Teil des Buches ausmacht. Der berühmteste Detektiv ist Sherlock Holmes Sherlock Holmes ist ohne Zweifel der berühmteste fiktionale Detektiv, der je geschaffen wurde, und neben Hamlet, Peter Pan, Ödipus (dessen Geschichte tatsächlich als die erste Detektivgeschichte der gesamten Literatur bezeichnet werden kann), Heathcliff, Dracula, Frankenstein und anderen zu den berühmtesten fiktionalen Figuren der Welt gehört. Holmes wurde natürlich von Sir Arthur Conan Doyle geschaffen und ist weitgehend eine Mischung aus Poes Dupin (einige von Dupins Ticks tauchen kaum verschleiert in den Sherlock-Holmes-Geschichten auf) und Dr. Joseph Bell, einem Arzt, der Doyle an der Universität von Edinburgh unterrichtete, als dieser dort Medizin studierte. Sherlock Holmes macht hingegen landläufiger Meinung keine wirklichen Deduktionen: Streng genommen nimmt seine Analyse die Form einer Induktion an, die etwas völlig anderes ist. In der Logik bedeutet Deduktion, Schlussfolgerungen aus allgemeinen Aussagen zu ziehen, während die Induktion konkrete Beispiele beinhaltet (die Zigarettenasche auf der Kleidung des Klienten, der Lehm an seinen Stiefeln usw.). Alternativ dazu haben einige Logiker auch behauptet, dass Holmes’ Argumentationsketten etwas sind, das als Abduktion und nicht als Deduktion oder Induktion bezeichnet wird. Beim abduktiven Denken geht es darum, auf der Grundlage der vorliegenden Beweise eine Hypothese aufzustellen, was eine recht ordentliche Zusammenfassung dessen darstellt, was Holmes tut. Die okkulten Detektive Nach dem Erfolg der Sherlock-Holmes-Geschichten und der steigenden Popularität der Geistergeschichte und des Schauerromans im späten 19. Jahrhundert entstand ein neues Untergenre: Der okkulte Detektiv, der Verbrechen (möglicherweise) übernatürlichen Ursprungs aufklärte, oft im Sherlock-Stil. Dr. Hesselius von Sheridan Le Fanu wird oft als die erste Figur dieser Art zitiert, obwohl er selbst nicht viel auflöst. Meistens sitzt er nur auf einem Stuhl und hört zu. Die beliebteste Figur, die aus diesem Subgenre hervorging, war der “Psycho-Arzt” John Silence, der von Algernon Blackwood geschaffen wurde. Blackwoods John Silence: Physician Extraordinary (1908) war das erste belletristische Werk, das auf Reklametafeln am Straßenrand beworben wurde, und wurde in der Folge auch zu einem Bestseller. Das 20te Jahrhundert Im 20ten Jahrhundert war Endeavour Morse nur einer in einer langen Liste von Detektiven im Oxford-Milieu (Oxbridge genannt). Einige seiner bemerkenswerten Vorläufer sind Lord Peter Wimsey (geschaffen von Dorothy L. Sayers), und der Oxford-Professor Gervase Fen, aus der Feder von Edmund Crispin (mit richtigem Namen Bruce Montgomery). Crispin wurde als einer der letzten großen Exponenten des klassischen Kriminalromans bezeichnet. Die populärste Krimiautorin aller Zeiten aber ist Agatha Christie – und es gibt so viele faszinierende Fakten über Agatha Christie, dass wir sie in einem separaten Beitrag behandeln müssen. Der Detektivroman vor der viktorianischen Ära Es ist kein großes Geheimnis, dass der Kriminalroman und die Detektivgeschichte ihre Wurzeln in der Viktorianischen Ära haben, auch wenn man berücksichtigt, dass es Geschichten über Verbrechen schon weitaus früher gab. Zwischen 1800 und 1900 können etwa 6000 Titel verzeichnet werden, die in englischer Sprache erschienen sind. Denn auch das darf nicht verwundern: Die englischsprachigen Länder strotzten damals nur so vor kulturellen Innovationen, was bis heute bis auf kleine Ausnahmen auch so geblieben ist. Offensichtlich hatte das englische Lesepublikum im Viktorianischen Zeitalter einen großen und seit langem bestehenden Appetit auf Kriminalromane. Woher kam dieser Appetit? Der berühmte Newgate-Kalender bot ab 1773 der englischen Öffentlichkeit die erste regelmäßige Information über kriminelle Aktivitäten, indem er Geschichten veröffentlichte, die auf den wahren Taten der Gefangenen des Newgate-Gefängnisses basierten. Dort fand man zu den aufgeführten Namen die zur Last gelegten Verbrechen mit detailreichen Beschreibungen, so dass zusammen mit dem biografischen Hintergrund jedes Angeklagten Erzählungen entstanden, die den persönlichen moralischen Verfall betonten und, obwohl als lehrreiche Warnung gedacht, auch Appetit auf mehr solcher Geschichten machten. Die Geschichten breiteten sich also immer mehr aus und beeinflussten bald auch die Belletristik. Populäre Autoren sahen sich auf einmal veranlasst, über Verbrechen zu schreiben, um die Bereitschaft der Bevölkerung auszunutzen, für solche Geschichten zu zahlen. Die Romane, die so entstanden, nannte man Newgate-Romane. Oft wurde darin Sympathie für die Kriminellen ausgedrückt und die Umstände veranschaulicht, die sie zum Verbrechen trieben. Charles Dickens (Oliver Twist und Barnaby Rudge), Edward Bulwer-Lytton (Paul Clifford und Eugene Aram) und Harrison Ainsworth (Jack Sheppard) erfreuten sich großer Beliebtheit, indem sie spannende Erzählungen über das Leben realer oder erfundener Krimineller anboten. Die Tageszeitungen berichteten damals über Prozesse, darunter die Illustradet Times, die 1856 eine Sonderausgabe über den Prozess gegen Dr. William Palmer, der unter anderem seine Frau und mehrere seine Kinder vergiftet hatte, herausgab. Danach hatte sich die Auflage des Blattes verdoppelt. Einige Verbrechen schafften es sogar zum Theater. Es schien, dass die englische Öffentlichkeit nicht nur von Verbrechen fasziniert war, sondern auch alle möglichen Darstellungsformen genoss, von Prozessprotokollen über Nachrichten bis hin zu Romanen und Theaterstücken. Scotland Yard und die Polizeiarbeit Die Gründung des Londoner Metropolitan Police Service (Scotland Yard) 1829 und der City of London Police 1839 bot einen zweiten Aspekt der Betrachtung von Verbrechen: Wie wurden Kriminelle identifiziert, gefasst und vor Gericht gebracht? Hier gab es dramatische Möglichkeiten, den Kampf zwischen Polizei und Verbrecher, zwischen Gut und Böse zu erforschen. Die Einführung von Männern, die sich der Lösung von Verbrechen widmen, bot ein Modell des persönlichen Kampfes zwischen Detektiv und Schurken, das als eines der grundlegenden Merkmale des Kriminalromans angesehen werden muss. Innerhalb dieser morbiden Faszination für das Verbrechen gab es ein besonderes Interesse gegenüber Frauen, die zu Mörderinnen wurden. Das mochte vor allem daran liegen, dass Frauen seltener vor Gericht gestellt wurden als Männer und deshalb ein Kuriosum in der damaligen Überzeugung von der Frau als weniger gewalttätigen und eher nährenden und liebenden Beschützerin von Heim und Kindern darstellte. Diese Ansicht war auch der Grund, warum Frauen weit weniger streng behandelt wurden, oder eher auf eine medizinische Weise behandelt wurden. Gerichtsfälle wie die der Constance Kent, die 1865 ihren dreijährigen Halbbruder ermordete, indem sie ihm die Kehle durchschnitt, oder Madeleine Smith, die 1857 ihren Geliebten durch Arsen ermordete, präsentierten und bestärkten die Idee, dass Frauen die schlimmsten Verbrechen sowohl gegen die Zivilisation als auch gegen ihre eigene weibliche Natur begehen können. Ein Bericht in der Times (28.07.1865) stellt einen Mangel an Emotionen seitens Kent fest, wodurch ihr Todesurteil in Strafarbeit umgewandelt wurde. Madeleine Smith, die beschuldigt wurde, einen lästigen Liebhaber vergiftet zu haben, stand da genau auf der anderen Seite, nämlich der des zügellosen sexuellen Appetits, Trotz einer Staatsanwaltschaft, die entschlossen war, Smiths abfällige Moral wegen ihrer sexuellen Aktivität vor Gericht zu stellen, gelang es ihr, einem Schuldspruch zu entgehen. Rechtshistoriker vermuten, dass es zwar wenig Beweise gab, die sie mit dem Tod in Verbindung brachten, dass sie aber ebenso wahrscheinlich einem Schuldspruch entging, weil sie es ablehnte auszusagen und sich so einer direkten Befragung entzog, und weil sie während des neuntägigen Prozesses die Fassung bewahrte. Madeline Smith war als Giftmörderin kaum einzigartig. Ein Drittel aller identifizierten Kriminalfälle im 19. Jahrhundert, in denen Vergiftungen festgestellt wurden, betrafen Arsen. Es war leicht in der Apotheke erhältlich, um Hausschädlinge zu töten, und kostengünstig war es obendrein. Die Symptome einer Arsenvergiftung waren für einen Gerichtsmediziner nicht von anderen Magenerkrankungen zu unterscheiden, so dass für einen Giftmörder eine große Chance bestand, der Strafverfolgung zu entkommen. Zumindest bis 1836, denn von da an war Arsen im Körper nachweisbar und die Arsenvergiftungen wurden tatsächlich seltener. Außerdem gaben die neuen Scheidungsgesetze den Frauen eine Möglichkeit, einer unglücklichen Ehe zu entfliehen. Das Klischee, Gift sei eine Waffe der Frauen, hat seinen Ursprung in dieser Zeit und durch Mörderinnen wie Madeleine Smith bekommen. Die Beliebtheit der Kriminalgeschichten durch alle möglichen Medien gab es bereits 60 Jahre lang, als Königin Victoria 1837 den Thron bestieg und das Viktorianische Zeitalter einläutete. Der Grundstein für die erste Blütezeit des Kriminalromans war gelegt worden, darunter die Geschichten von Arthur Conan Doyle und seinem Detektiv Sherlock Holmes.
7 minutes | a month ago
Review: Laura Purcell - Die stillen Gefährten | #30
Laura Purcell – Die stillen Gefährten Laura Purcell und ihr geisterhaftes Debüt. Einige Türen sind aus einem bestimmten Grund verschlossen … England, 1866: Als Elsie den reichen Erben Rupert Bainbridge heiratet, glaubt sie, nun ein Leben im Luxus vor sich zu haben. Doch nur wenige Wochen nach ihrer Hochzeit ist sie bereits verwitwet. Und dazu schwanger.Elsie bezieht das alte Landgut ihres verstorbenen Mannes. Da ihre neuen Diener ihr gegenüber äußert reserviert sind, hat Elsie nur die ungeschickte Cousine ihres Mannes zur Gesellschaft.Zumindest glaubt sie das. Doch in ihrem neuen Zuhause existiert ein verschlossener Raum. Als sich dessen Tür für sie öffnet, findet sie ein 200 Jahre altes Tagebuch und eine beunruhigende, lebensgroße Holzfigur – eine stille Gefährtin … (Verlagstext) Erschienen im Festa-Verlag Weiterführend: Die Anfänge der Schauerliteratur. Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript Eine neue Stimme Laura Purcell ist eine neue Stimme unter den jungen Autorinnen, die sich gerade daran machen, der Gothic Novel wieder neuen Atem einzuhauchen. Man erfährt von dem gegenwärtige Geschehen im Augenblick noch nicht allzu viel, vielleicht gerade deshalb, weil sich die einschlägigen Medien der Sache noch gar nicht angenommen haben und es gibt auch noch keinen spezifischen Verlag, der einen Vorstoß wagt und die New Wave of Gothic Novel ausruft. Alles scheint noch etwas vage beäugt zu werden, aber nach und nach tauchen immer mehr Töchter Jane Austens auf, eine davon jüngst im Festa-Verlag. Laura Purcell ist eine dieser Anhängerinnen Jane Austens. Dazu muss allerdings gesagt werden, dass es jene gibt, die Jane Austen nur von den höflichen Komödienadaptionen im TV kennen, dadurch aber gerne ausblenden, dass es durchaus eine Seite an Austen gibt, die der Gothic Novel zugerechnet werden kann. Da scheint es fast schon selbstverständlich, dass moderne Autorinnen, die eine düstere Thematik bedienen, hier neben Daphne du Maurier – Dafni di moriei -ihren Markstein finden. Namentlich: Northhanger Abbey, das exemplarisch für die schiere Brandbreite der Gothic Novel steht. Sie kann eine Satire mit Happy End sein, ein Abenteuer, das der Weird Fiction nahe steht, oder einfach nur Horror. Wenn wir das Wort “Gothic” auf Literatur anwenden, beschreiben wir häufig eine Atmosphäre: etwas Unbehagliches, das unsere Grenzen der Wahrnehmung verwischt. Die Autoren sind dabei immer erfinderischer geworden. Die klassischen Tropen – etwa einer Heldin, die im Nachthemd über neblige Felder rennt – sind längst nicht mehr notwendig, um das Prädikat der Gothic Novel aufrecht zu erhalten. Es ist eine neue Riege von (vornehmlich) Autorinnen, die ihr Werk jetzt neben das von Susan Hill, Sarah Waters, Diane Setterfield und anderen stellt und dem Genre neues Leben einhaucht. Ihre Arbeit fordert die Wahrnehmung der Leser heraus, und lässt sie im Unklaren darüber, was sie glauben sollen. Eine Erzählung, die mit der Idee der Welt jenseits dessen, was wir sehen können, kokettiert, erhöht dann auch die Wahrscheinlichkeit, dass wir es mit einer modernen Gothic Novel zu tun haben. Die besten Schauergeschichten kommen meist ohne eine der obligatorischen Monster aus; eine perfekte Handhabung von Mythen, Legenden und klassischen Motiven stampft ohnehin jeden Zombie oder Werwolf ein. Das liegt vor allem daran, dass wir Monster zwar interessant finden können, aber wissen, dass die Wahrscheinlichkeit, einem zu begegnen, eher gegen Null tendiert. Anders verhält es sich mit jenseitigen Welten, mit einer destabilen und unsicheren Realität. Eine Geschichte, in der “verhexte” Holzfiguren eine Rolle spielen, hat also ein ganz anderes Gewicht. Laura Purcell gelingt es, ein Gefühl durchdringender Angst heraufzubeschwören, indem sie auf tiefenpsychologisch wirksame Artefakte setzt. Die Bedrohung durch die stillen Gefährten Dabei scheint die Prämisse des Romans gar nicht so vielversprechend zu sein: Wir schreiben das Jahr 1865 im viktorianischen England. Nach einer harten Kindheit, in der sie den Tod ihres Vaters und den Abstieg ihrer Mutter in den Wahnsinn verkraften musste, hat Elsie endlich ihr Glück gefunden und ihre und die Zukunft ihres Bruders gesichert, indem sie den reichen Rupert Bainbridge heiratete, der bald nach der Hochzeit abreist, um ihr Anwesen auf dem Land, genannt The Bridge, für die Ankunft seiner neuen (und gerade schwangeren) Braut einzurichten. Nur wenige Wochen nach der Hochzeit kommt es jedoch zu einer Tragödie, als Rupert kurz nach seiner Ankunft auf The Bridge unter mysteriösen Umständen plötzlich stirbt. Die trauernde, verzweifelte Elsie trifft bald darauf selbst dort ein und muss schnell feststellen, dass die Dienerschaft sie von Anfang an nicht leiden kann und die Dorfbewohner The Bridge gleichermaßen hassen und fürchten. In der ersten Nacht, in der sie sich in dem alten, verfallenen Herrenhaus einquartiert und nur Ruperts mehr als fade alte Cousine zur Gesellschaft hat, hört Elsie bizarre Kratzgeräusche, die aus einer Kammer über ihr kommen, und als sie der Sache nachgeht, entdeckt sie ein seltsames, großes Stück Holz, das bemalt und in die sehr realistisch aussehende, lebensgroße Figur eines jungen Mädchens geschnitten wurde – eines jungen Mädchens, das Elsie seltsamerweise sehr ähnlich sieht. Außerdem entdeckt sie ein Tagebuch, das von der Vorbesitzerin des Hauses geschrieben wurde, in dem die Geschichte dieser und weiterer dieser “stillen Gefährten” geschildert wird. Dieser “stille Gefährte” wird schließlich als Verzierung am Fenster im Erdgeschoss neben dem Eingang des Hauses platziert, aber im Laufe der Zeit erkennt Elsie, dass seltsame Dinge passieren; die Figur verschiebt sich oder bewegt sich leicht im Laufe des Tages, ohne dass jemand im Haus zugibt, sie berührt zu haben, oder die Augen der Figur scheinen nicht in der Position zu sein, in der Elsie sie ursprünglich in Erinnerung hatte. Als immer mehr stille Gefährten im Haus auftauchen und einige der Figuren ein geradezu unheimliches Aussehen annehmen, wird Elsie klar, dass sie und ihr Baby in Gefahr sind und dass das, was in der Nacht rumort, in Wirklichkeit Holz sein könnte, das über den Boden schabt und hinter ihr her ist. Der Roman wechselt nun zwischen den Ereignissen von 1865 und 1635, um eine haarsträubende Geschichte zu offenbaren, hat aber noch einen dritten Erzählstrang, mit dem das Buch in einer Irrenanstalt kurz nach den Ereignissen in The Bridge beginnt. Dort erfahren wir, dass eine schrecklich zugerichtete Elsie auf ihren Prozess wartet, um entweder weggesperrt oder wegen Mordes gehängt zu werden. Es ist gerade jener Erzählstrang, der das wirklich eiskalte Ende beinhaltet und die vorher offenbarte Geschichte noch einmal in einem anderen Licht erscheinen lässt. Laura Purcell präsentiert in ihrem Debüt eine einzigartige Geistergeschichte mit allem, was dazu gehört: einer unheimlichen Atmosphäre und einem zerfallenden Anwesen. Das einzige Problem sind die Dialoge; sie treffen im Grunde nicht den Ton der Zeit, in der das Buch spielt. Hat man sich erst einmal an die unauthentische Ausdrucksweise gewöhnt, spielt das aber keine große Rolle mehr (und moderne Leser werden es ohnehin kaum merken).
33 minutes | a month ago
HÖRBUCH: Tobias Reckermann - Xulhu | #29
Tobias Reckermann, Jahrgang 1979, lebt und schreibt in Darmstadt und arbeitet als Maschinist bei Whitetrain . Er ist Redakteur und Herausgeber des IF Magazin für angewandte Fantastik. Als Schriftsteller widmet er sich neben anderen Zweigen der Fantastik im Besonderen der Weird Fiction und chinesischer Wuxia-Literatur. Seit 2014 erschienen sind seine Romane Das Schlafende Gleis, Langfaust und Die zwei Schneiden des Glücks, außerdem die Erzählbände Venom & Claw und Graund, sowie mehrere Beiträge in Magazinen und Anthologien. Die Geschichte wurde mit freundlicher Genehmigung des Blitz-Verlages eingelesen. Link zum Autor: http://tobiasreckermann.whitetrain.de Link zum Blitz-Verlag: Jörg Kleudgen (Hg.) – Xulhu Musik im Jingle: Witches dance by Óscar H CaballeroLink: https://filmmusic.io/song/7274-witches-danceLicense: https://filmmusic.io/standard-license
16 minutes | a month ago
Review: Angela Carter - Schwarze Venus | #28
Angela Carters dritte Sammlung – Schwarze Venus – erschien bei uns im Jahre 1990, fünfzehn Jahre später als das Original. Es wäre nicht genüge, diese acht Perlen einfach nur Geschichten zu nennen. Wären sie das, könnten wir uns leicht über das Abrupte in ihnen beklagen, geschrieben von einer Virtuosin, die ihr Instrument einfach nur hinlegt, ihr Können längst bewiesen hat, als ob der Nachhall ihrer Legende bereits ausreichen würde. Es gibt in dieser Sammlung Sätze, die sich als poetische Fragmente betrachten lassen. Ihre Erzählungen haben mehr mit der Struktur von Märchen zu tun; hier wirkt eine autoritative Stimme im Hintergrund, die Dialoge vermeidet, scheinbar undurchsichtig Ereignisse werden in einen Prolog und ein Nachspiel gekleidet, so dass sie aus dem Text heraustreten. Hier ist eine Fantasie am Werk, die unter dem Deckmantel historischer Meditationen waltet. Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript Acht Perlen der Erzählkunst Traurig; so traurig die rosig-rauchigen, mauve-rauchigen Abende im Spätherbst, traurig genug, um einem das Herz zu brechen. Die Sonne verlässt den Himmel in Leichentüchern von bunten Wolken; die Qual erobert die Stadt, ein Gefühl bitterster Reue, eine Sehnsucht nach nie Gekanntem, die Qual des endenden Jahres, der untröstlichen Zeit. Im Amerika nennt man den Herbst the fall, was an den Fall Adams denken lässt, als müsste das fatale Drama des urzeitlichen Obstdiebstahles wiederkehren und immer wiederkehren, in regelmäßigem Zyklus, zu einer Jahreszeit, wo die Schuljungen die Obstgärten plündern, damit im alltäglichen Bilde ein Kind, irgendeines, jedes, sichtbar wird, das vor der Wahl zwischen Tugend und Erkenntnis immer die Erkenntnis wählt, immer den schweren Weg. Obwohl sie die Bedeutung des Wortes “Reue” nicht kennt, seufzt die Frau auf, ohne besonderen Grund.Weiche Nebelwirbel dringen in die Gasse ein, steigen wie der Atem eines erschöpften Geistes aus dem trägen Fluss auf, sickern durch die Ritzen der Fensterrahmen, dass die Umrisse ihrer hohen, einsamen Wohnung wanken und verschwimmen. An solchen Abenden sieht man alles so, als wollten einem die Augen gleich mit Tränen übergehen. Angela Carters dritte Sammlung erschien bei uns im Jahre 1990, fünfzehn Jahre später als das Original. Es wäre nicht genüge, diese acht Perlen einfach nur Geschichten zu nennen. Wären sie das, könnten wir uns leicht über das Abrupte in ihnen beklagen, geschrieben von einer Virtuosin, die ihr Instrument einfach nur hinlegt, ihr Können längst bewiesen hat, als ob der Nachhall ihrer Legende bereits ausreichen würde. Es gibt in dieser Sammlung Sätze, die sich als poetische Fragmente betrachten lassen. Ihre Erzählungen haben mehr mit der Struktur von Märchen zu tun; hier wirkt eine autoritative Stimme im Hintergrund, die Dialoge vermeidet, scheinbar undurchsichtig Ereignisse werden in einen Prolog und ein Nachspiel gekleidet, so dass sie aus dem Text heraustreten. Hier ist eine Fantasie am Werk, die unter dem Deckmantel historischer Meditationen waltet. Schwarze Venus Die Eröffnungsgeschichte Schwarze Venus ist Carters Interpretation der Muse und Geliebten von Charles Baudelaire, Jeanne Duval, die er seine “Vénus Noire” nannte, die Inspiration für insgesamt sieben Gedichte aus den „Blumen des Bösen“ war, von der man tatsächlich sehr wenig weiß und die wohl ihren Namen als Tänzerin und Objekt der Begierde sehr häufig geändert haben dürfte. Geheimnisvoll erscheint sie nicht zuletzt deshalb, weil sie die Geliebte eines perversen, “bösen” Dichters war. Uns wird erzählt, wie er eines nachts von ihr in Erregung versetzt wird, als er sie ohne einen Hinweis oder jedwedes Schamgefühl auf die Straße urinieren sieht. Die subtile Andeutung, dass sie eine gefallene Frau ist, wie in dem obigen Auszug angedeutet, wird durch die letzte Beobachtung des Fotografen Nadar verstärkt, der eine syphilitische, zahnlose und auf Krücken stehende Frau sieht. Durch Carter wird sie transformiert, ihre Sexualität wird zu einer Ermächtigung, als sie Baudelaire für den Sex bezahlen lässt, weil sie ihn respektiert und weil sie es wert ist. Außerdem wird sie als die Intelligentere von beiden dargestellt; obwohl sie seine Kunst zu schätzen weiß, erkennt sie die Dummheit seines Vergleichs ihres Tanzes mit dem einer Schlange. Hätte er – wie sie – je eine gesehen, wüsste er, wie lächerlich der Vergleich war. Baudelaire selbst zeigt sich als sehr gesprächig und ein wenig als Poseur, während er in ihren Armen nach dem Koitus zu weinen beginnt. Am Ende der Erzählung überlebt sie den Dichter und kehrt nach Martinique zurück. Der Kuss Die zweite Geschichte, Der Kuss, ist die kürzeste Geschichte in der Sammlung und handelt von einem Zwischenfall zwischen Timurs schöner und klugen Frau und einem Baumeister. Die Ehefrau will ihrem siegreich von einem Feldzug zurückkehrenden Mann eine Moschee bauen und pocht darauf, dass sie rechtzeitig fertig wird. Aber ein Torbogen bleibt noch unvollendet. Sie ruft den Bauherrn herbei, aber er wird den Torbogen nur unter der Gegenleistung eines Kusses vollenden. Die Ehefrau will nicht untreu sein, und deshalb entwirft sie einen Plan, um ihn zu täuschen, indem sie ihm Eier mit verschiedenfarbiger Schalen zum Essen gibt. Als er sie gegessen hat und unbeeindruckt ist, weil sie alle gleich schmeckten, benutzt sie das gegen ihn, indem sie sagt, dass die gleiche Logik für Küsse gilt, unabhängig von der Ästhetik, deshalb wird sie ihm erlauben, stattdessen irgendeine ihrer Mägde zu küssen. Sein Gegenvorschlag umfasst drei Schüsseln mit klarer Flüssigkeit, zwei mit Wasser und einen mit Wodka, mit dem Argument, dass, obwohl sie gleich aussehen, jede Flüssigkeit anders schmeckt und so sei es auch mit der Liebe. Danach küsst sie ihn und als Tamur nach Hause zurückkehrt, wird sie nicht in den Harem zurückkehren, weil sie Wodka probiert hat und ihm gesteht, dass sie den Architekten geküsst hat. Sie wird geschlagen, und er schickt seine Wachen, um den Architekten hinzurichten, der auf dem fertiggestellten Torbogen steht, sich Flügel wachsen lässt und davon fliegt. Unsere Liebe Frau vom großen Massaker Unsere Liebe Frau vom Großen Massaker erzählt die Geschichte eines Mädchens aus Lancashire, das nach London zieht, wo sie einen Laib Brot stehlen muss, um nicht zu verhungern, und von einem Gentleman erwischt wird, der sie dazu überredet, mit ihm in ein Zimmer zu gehen, um Sex zu haben. Als er merkt, dass sie noch Jungfrau ist, schämt er sich und gibt ihr etwas Geld. Die Folge davon ist, dass ihr das recht gut gefällt und sie damit beginnt, sich zu prostituieren. Nebenbei beginnt sie aus Spaß auch noch zu stehlen, wird erwischt und in die Neue Welt verfrachtet, um dort auf einer Plantage zu arbeiten. Dort muss sie fliehen, als sie einem Vorarbeiter, der sie vergewaltigen will, die Ohren abschneidet. In der Wildnis begegnet sie einer Indianerin, die sie als Tochter aufnimmt und so wird sie Teil des Stammes. Dort lebt sie ein einfaches Leben, glücklich, weil sie keine Wünsche und Bedürfnisse hat und zu einer Gemeinschaft gehört. Sie heiratet sogar einen der Stammesangehörigen und hat einen kleinen Jungen. Ihr Glück ist jedoch nicht von Dauer, denn die Engländer kommen und schlachten alle ab. Sie selbst wird von den Engländern mitgenommen, wo sie von einem Priester gekauft wird, der ihre und die Seele ihres Kindes retten will. Die Geschichte würde in der Hand einer weniger begabten Schriftstellerin leicht platzen, denn die Gegenüberstellung der ekelerregenden „Zivilisation“, wo sie ihren Körper verkaufen muss, um zu überleben, und den respektvollen „Wilden“, in deren Gemeinschaft sie sich sinnvoll einfügt, ist schon vielen misslungen. Tatsächlich könnte man einen Makel darin sehen, dass die Geschichte an sich nicht phantastisch ist. Aber wie bereits bei Schwarze Venus selbst ist sie spekulativ-abenteuerlich, und das rückt sie in die Nähe der Literatur, die wir meinen. Das Kabinett des Edgar Allan Poe Die nächste Geschichte stellt den Höhepunkt der an sich schon sehr starken Sammlung dar: Das Kabinett des Edgar Allan Poe. Diese Erzählung beschäftigt sich mit den Effekten, die seine Kindheit und seine Mutter auf Poes pathologische Probleme im Mannesalter hatten. Bekanntermaßen war Poes Mutter eine Schauspielerin, die für ihr Können und ihre Vielseitigkeit in den Rollen von Shakespeares tragischen Heldinnen Ophelia und Juliet Capulet bis hin zu Chor-, Tanz- und Komödienrollen gelobt wurde. Die Sache, die Edgar am meisten genießt, ist, sie in ihrem Schrankspiegel zu sehen und dabei zuzusehen, wie sie sich komplett von einer Person in eine andere verwandelt. Nachdem der Vater verschwunden ist (er löst sich einfach auf), versucht sie weiterhin unter Selbstaufgabe sich um ihn und um seine zwei Geschwister zu kümmern. Bis zu ihrem Tod, den Carter so beschreibt: Der feuchte, mürrische Winter des Südens unterzeichnete ihr Ende. Sie legte das Hemd der irren Ophelia zum Abschied an.Als sie ihn rief, kam der fahle Reiter. Edgar schaute aus dem Fenster und sah ihn. Die lautlosen Hufe von Pferden, die schwarze Federbüsche trugen, schlugen Funken aus den Pflastersteinen der Straße drunten. „Vater!“, sagte Edgar; er dachte, ihr Vater müsse sich in dieser verzweifelten Lage wieder zusammengefügt haben, um sie alle zu einem besseren Ort zu fahren, doch als er genauer hinsah, beim Licht des schwelenden Mondes, erkannte er, dass die Augenhöhlen des Kutschers voller Würmer waren. Der Tod seiner Mutter hat tiefgreifende Auswirkungen auf Poe, da er seine Mutter schon unzählige Male auf der Bühne sterben und sie nach dem gefallenen Vorhang wieder aufstehen gesehen hat, aber diesmal kehrt sie nicht zurück. Drei Wochen nach ihrem Tod wird er von den Allens aufgenommen und bekommt ein gutes Zuhause und eine gute Ausbildung, er wächst auf und heiratet seine dreizehnjährige Cousine Virginia Clemm. Elf Jahre lang werden sie verheiratet sein, bis das bleiche, sanfte Mädchen an Tuberkulose stirbt. In dieser Erzählung zeigt Carter virtuos auf, wie sehr Poe durch den tragischen Tod der beiden Frauen, die er liebte, geprägt wurde. Wir kennen das stets wiederkehrende Thema der sterbenden oder toten Frauen in seiner Arbeit natürlich sehr genau und ich selbst habe schon eine Menge darüber geschrieben, was aber hier nichts zur Sache tut. In den nächsten beiden Erzählungen kehrt Angela Carter auf das ihr vertraute Gebiet der Volkserzählungen zurück. Einmal, um Shakespeares “Sommernachstraum” neu zu erfinden, in dem sie einen goldenen Hermaphroditen einführt, und ein anderes Mal, um sich in „Peter und der Wolf“ erneut dem Motiv der Wolfskinder anzunehmen, wo sie unter anderem ja ihre stärksten Momente auch in „Blaubarts Zimmer“ hat. Capriccio-Ouvertüre zu “Ein Sommernachstraum‘”  In Capriccio-Ouvertüre zu “Ein Sommernachstraum‘” stellt sich Carter einen sehr englischen Wald als Schauplatz vor, in dem sie besagten goldenen Hermaphroditen namens Herm in die Geschichte einfügt, der unter der Obhut von Titania steht, die entschlossen ist, sie vor den verliebten Annäherungsversuchen ihres Mannes Oberon zu schützen. Während sich der Wald zu verändern beginnt, um Oberons sexueller Frustration anzupassen, benutzt Titania den Herm für sich selbst. Darüber hinaus ist Herm auch das Objekt der Begierde von Puck, der ihr/ihm in den Wald folgt, wo Herm Yoga praktiziert, den Hermaphrodieten aber nicht zu nahe treten kann, weil eine Barriere um ihn geschaffen wurde, um ihn zu schützen. Deshalb sieht er ihm nur zu und masturbiert. Puck schafft es sogar, seine Genitalien so umzustellen, dass er sich in einen Zwitter verwandelt, aber auch das nützt ihm nichts. Selbst für Carters Maßstäbe ist die hier genutzte Sprache üppig, das eigentlich Interessante jedoch ist die Symbolik, die sie jedem Charakter zuweist. Titania ist eine Fruchtbarkeitsgöttin, während ihr Mann, der König, frustrierte männliche Dominanz darstellt und Puck reine, ungehemmte animalische Sexualität ist. Der goldene Herm, obwohl er beide Geschlechtsteile besitzt und von Männern und Frauen gleichermaßen begehrt wird, scheint die ganze Idee des Geschlechts langweilig zu finden, als ob er durch einen höheren Zustand erleuchtet wäre, wie sein Yoga dann auch zeigt. Bei der Adaption der Geschichte behält Carter die Unzucht von Shakespeares Stück zwar bei, macht es aber uneingeschränkt zu ihrer eigenen Geschichte. Peter und der Wolf entdeckt Peter während der Jagd ein junges Mädchen unter den Wölfen. Es handelt sich um seine Cousine, die verwilderte, als ihre Eltern, die abgeschieden auf einem Berg lebten, von Wölfen getötet wurden, als sie selbst noch ein Baby war. Gemeinsam mit anderen Jägern wird sie eingefangen und „nach Hause“ gebracht. Peter und seine Großmutter sind fest entschlossen, ihr zu helfen. Sie allerdings fängt laut zu heulen an und es dauert nicht lange, da kommen die Wölfe vom Berg herunter und befreien das Mädchen. Nach diesem Ereignis wird Peter religiös. Als er volljährig ist, empfiehlt es sich von daher für ihn, ins Priesterseminar zu gehen und dort zu studieren. Als er das Dorf verlässt, kommt er an einen Fluss und sieht seine Cousine mit zwei Wolfsjungen, die von ihr gesäugt werden (hier haben wir die dunkle Symbolik der Sodomie). Als er sie dort sieht, wird er an seine Sehnsucht erinnert, die ihn überkam, als er zum ersten Mal von ihrem Geschlecht angezogen wurde als er sie nackt und wild im Haus sah, bevor die Wölfe sie befreiten. Er versucht über den Fluss zu ihr zu gelangen, aber er verschreckt sie nur. Wie Puck in der vorigen Geschichte, steht das wilde Mädchen für die animalische Sexualität, aber sie repräsentiert auch eine Art Freiheit, die Peter nicht weniger begehrt, aber nicht haben kann. Auf seinem weiteren Weg bemerkt Peter, dass ihm die Berge seiner Jugend wie auf einer Postkarte geworden sind und blickt nicht zurück aus Angst, das gleiche Schicksal wie Lots Frau zu teilen. Das Küchenkind In der nächsten Erzählung, Das Küchenkind, wird die Geschichte eines kleinen Jungen erzählt, der aus einer zufälligen Begegnung zwischen seiner Mutter und einem mysteriösen Mann in der Küche eines Landhauses, in dem sie arbeitet, geboren wurde. In der Küche aufgewachsen, lernt der Junge von klein auf eine Reihe von kulinarischen Fertigkeiten unter der Obhut seiner Mutter, einer begnadeten Köchin. Doch sie fühlt sich unterschätzt, denn wenn der Hausherr zu Besuch kommt, fragt er nie nach ihrer Spezialität, dem Hummersoufflé. Eines Tages geht der Junge auf den Herzog zu, um näheres über seinen Vater in Erfahrung zu bringen. Von ihm erfährt er, dass es sich dabei um den Kammerdiener des Herzogs handelte und dieser traurigerweise verstorben sei, aber auch, dass die Haushälterin – und Gegenspielerin der Köchin – diese Nachricht absichtlich nicht weitergegeben hatte, was seine Mutter fälschlicherweise glauben ließ, er interessiere sich nicht für das Hummersoufflé. Als Zeichen seiner freundlichen Geste geht er in die Küche, um der Mutter des Jungen eine kleine Aufmerksamkeit zu machen, aber sie lehnt seine Annäherung ab, denn als sie bei der letzten Gelegenheit belästigt wurde (der Zeugung des Jungen), gab sie zu viel Cayenne in die Schüssel. Der Herzog ist bewegt von der Hingabe der Mutter an ihre Arbeit und bittet sie, Chefköchin in seiner Residenz zu werden. Der Junge wird sein Ziehsohn und der jüngste Koch in ganz England. Auch diese Geschichte ist weniger phantastisch als einfach nur ein sprachliches Meisterwerk. Die Morde vom Fall River Die letzte Geschichte in der Sammlung ist Die Morde von Fall River, die Geschichte von Lizzy Borden, die in der allgemein bekannten Legende ihren Vater als auch ihre Mutter mit einer Axt ermordet haben soll. Tatsächlich bestehen noch immer Zweifel, ob sie es wirklich getan hat, vor Gericht wurde sie jedenfalls freigesprochen. Carters Lizzy lebt in einem bedrückenden Haus, in dem aufgrund eines kürzlichen Einbruchs alle Türen zu jeder Zeit verschlossen bleiben. Ihr Vater ist recht wohlhabend, aber er ist ein Geizhals, so dass selbst die Form des Hauses bedrückend, sehr eng ist, und Carter nutzt dies, um eine Atmosphäre zu schaffen, die höchst klaustrophobisch ist. Ihre Stiefmutter wird als ziemlich gefräßig dargestellt, und die Beziehung zwischen ihr und Lizzy ist nicht gerade gut. Lizzys Schwester ist weggegangen, um bei Freunden in einer anderen Stadt zu leben, aber Lizzy fühlt sich aus Gründen, die nur mit einer inneren Stimme erklärt werden, gezwungen, in Massachusetts zu bleiben. Während die Hitze unerträglich wird und jeden im Haus krank macht, ereignet sich das, was schließlich Lizzys Verbrechen auslöst (und Carter geht von ihrer naheliegenden Schuld aus). Obwohl ihr Vater ein Geizhals ist (der als Bestatter den Leute die Füße abschneidet, damit sie in einen kleinen, billigen Sarg passen), gewährt er seiner Tochter jeden (finanziellen) Wunsch. Eines Tages tötet er aber Lizzys Tauben, um sie seiner Gemahlin wortwörtlich zum Fraß vorzuwerfen. Lizzys Verbrechen wird beinahe zu einem Akt radikaler Befreiung. Sie greift auf Gewalt zurück, um sich einer grausamen und bedrückenden Situation zu entledigen. Angela Carters Schreibstil wird oft dem Magischen Realismus zugeordnet, obwohl nach ihrer eigenen Aussage dieses Etikett nicht ganz stimmig ist. Sie selbst plädiert für ein “literarisches Spiel” im Geiste lateinamerikanischer Schriftsteller wie Garcia Marquez und Jorge Luis Borges. Borges war bei weitem ihr wichtigster Einfluss – und darin liegt vielleicht das Problem mit dem Etikett. In Europa geht man allgemein davon aus, Borges sei eben der Prototyp des Magischen Realisten gewesen – und auch Marquez bekam ja dieses Schild verpasst, wobei aber nicht vergessen werden darf, dass die Erfindung des Magischen Realismus nur ein Marketingkonzept der Verlage gewesen ist.
20 minutes | 2 months ago
HÖRBUCH: Erik R. Andara - In ihrer Finsternis ruhen | #27
Erik R. Andara: Hotel Kummer “Doch nun: Hereinspaziert, ihr Menschen, in die eigentümlichen, oft beunruhigenden, mal finsteren, mal lichteren, zuweilen aber immer geheimnisvollen und bedrohlichen Suiten des Hotels Kummer, das halb im Diesseits, halb im Jenseits steht, und in dessen Zimmerfluchten es immer eine verschlossene Tür gibt, die hinter die irdische Bühne führt. Eine Pforte, die bei Leserinnen und Lesern den dunklen Wunsch weckt, eine der Erzählfiguren möge sie endlich öffnen. Jenes bedauernswerte Geschöpf mit dem Buch in den Händen gedanklich zu verlocken und zu verleiten, für sie einen Blick in den verbotenen Raum dahinter zu werfen – um sich am Ende glücklich zu schätzen, doch nur heimlich über die Schulter schauen zu dürfen, als Voyeure vor dem dunklen Horizont.” — Michael Marrack aus dem Vorwort zu Hotel Kummer. Link zum Autor: https://www.facebook.com/erik.r.andara Musik im Jingle: Witches dance by Óscar H CaballeroLink: https://filmmusic.io/song/7274-witches-danceLicense: https://filmmusic.io/standard-license
8 minutes | 2 months ago
Review: Diane Setterfield - Was der Fluss erzählt | #26
Diane Setterfield – Was der Fluss erzählt / Random House Was wäre die Welt des Geschichtenerzählens ohne die einleitende Formel “Es war einmal…”, mit der eine Erzählung vergangener Ereignisse eingeleitet wird und die man seit mindestens dem 14. Jahrhundert kennt? So hat diese Formel allein schon etwas Magisches und verbindet uns mit einer vagen Vergangenheit und einen weit entfernten Ort, ohne dass wir genaueres wissen müssen. Etwas trug sich zu, vor langer Zeit, und es ist erhaltenswert. Davon soll berichtet werden. Diane Setterfield tut das, sie leitet ihre Geschichte mit diesem Zauberspruch ein. Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript Zwei Jahre hat es gedauert, bis wir den dritten Roman von Diane Setterfiled nun auch in Übersetzung vorliegen haben, immerhin eine Autorin, die 2006 mit “Die dreizehnte Geschichte” einen Orkan in der Verlagswelt verursachte. Wie man hört, ist jetzt leider sogar eine TV-Serie zu “Was der Fluss erzählt” geplant; wer die Verfilmung der dreizehnten Geschichte gesehen hat, wird das “leider” leicht verstehen können. Aber so ist das Geschäft. Auf der anderen Seite beweist das aber auch einmal mehr, dass Diane Setterfield ein herausragendes erzählerisches Talent besitzt und hier einen kraftvollen Roman darüber vorgelegt hat, wie wir uns selbst und anderen die Welt erklären, über den Sinn des Lebens in einem Universum, das undurchdringlich geheimnisvoll bleibt. Was wäre die Welt des Geschichtenerzählens ohne die einleitende Formel “Es war einmal…”, mit der eine Erzählung vergangener Ereignisse eingeleitet wird und die man seit mindestens dem 14. Jahrhundert kennt? So hat diese Formel allein schon etwas Magisches und verbindet uns mit einer vagen Vergangenheit und einen weit entfernten Ort, ohne dass wir genaueres wissen müssen. Etwas trug sich zu, vor langer Zeit, und es ist erhaltenswert. Davon soll berichtet werden. Diane Setterfield tut das, sie leitet ihre Geschichte mit diesem Zauberspruch ein. In Setterfields sprichwörtlich bezaubernden und verzauberten Geschichte dreht sich alles um den Fluss als Symbol und als metaphysischen Grund der Existenz gerade jener Menschen, die im Einflussbereich fließenden Gewässers leben. Hier ist es die Themse in der Nähe von Oxford, aber auch dieser gewaltige Fluss ist nichts ohne seine zahlreichen Seitenarme, groß und klein. Nicht nur ist der Fluss für das Geschichtenerzählen an sich ein definitives Bild, sondern für das ganze Leben, das, besieht man es sich genauer, ebenfalls nur aus Erzählungen besteht. Man erzählt sich selbst, wer man eigentlich ist und man erzählt es anderen; diese anderen erzählen einem nächsten, wer man ist und vieles, was man selbst erzählt hat, wird schon um die nächste Ecke herum zur Fiktion. Setterfield erzählt dem Leser diese Geschichte. Was sich wie eine Binsenweisheit anhört, ist im Grunde nur der kleine Kniff, den Leser manches Mal direkt anzusprechen. Das ist am Ende nur konsequent, da die Autorin hier mit Konventionen des Erzählens herumspielt, während sie ihre Geschichtenerzähler im “Swan” durchaus das gleiche tun lässt. Dieses kleine und gemütliche Gasthaus – oder Pub – an der Themse ist neben dem Fluss selbst der Dreh- und Angelpunkt der Geschehnisse um ein rätselhaftes Mädchen, das eines Tages von dem Fotografen Daunt offensichtlich tot in die Gaststube gebracht wird, bevor er aufgrund von einigen Verletzungen ohnmächtig wird. Rita, die herbeizitierte Krankenschwester stellt dann zunächst den Tot des Mädchens fest. Als niemand hinsieht, küsst der Sohn des Gastwirts Jonathan, der am Down-Syndrom leidet, das Mädchen in der Hoffnung, es zu erwecken, wie es der Prinz mit Dornröschen getan hat. Und siehe da: Als die Krankenschwester zur Leiche zurückkehrt, findet sie statt einer Toten ein lebendiges vierjähriges Mädchen vor. Innerhalb weniger Stunden erreichen die Spekulationen über die Identität des Kindes einen Grad an Verwirrung, den Setterfield auf den folgenden rund 400 Seiten aufrechterhalten kann. Dabei hilft ihr die Tatsache, dass das Mädchen sich weigert zu sprechen, um den Sachverhalt vielleicht aufzuklären. Nun folgen einige überraschende Wendungen, als nämlich jeder in irgendeiner Form eine Beziehung zu diesem Kind in Anspruch nimmt. Nicht zuletzt gibt es da noch die gespenstische Gestalt eines längst verstorbenen Fährmanns, der in Momenten der Not erscheint, um Menschen entweder ans rettende Ufer zu bringen oder “zur anderen Seite”, sollte ihre Zeit gekommen sein. Im großen und ganzen sind die ländlichen Bewohner des Flusses, der wie gesagt die Themse ist, andererseits aber auch wieder nicht, ziemlich einfältige Arbeiter, die sich ihre Zeit mit der Interpretation der sich immer wieder ändernden Verhältnisse um das Mädchen beschäftigen, um ihren Alltag aufzulockern. Die Geschichte selbst ist dunkel genug und schwebt stets wie hinter einer Wolke, die zum Teil Märchencharakter hat, zum anderen aber Richtung Jane Austen tendiert, nämlich dann, wenn die Hintergrundgeschichten der einzelnen Protagonisten in den Vordergrund rückt, besagte Zu- und Abläufe der eigentlichen Erzählung, die durchflossen wird von Anspielungen und Wasser-Metaphern. Tatsächlich schreibt Setterfield mit nicht geringem Pathos über den Fluss, zum Beispiel, wenn ihr edelmütiger Protagonist Robert Armstrong ihn beschreibt: “[…] hinter dem hellen, rieselnden Ton von Wasser auf Kies am Uferrand war noch ein Summen zu hören, so, wie einem der Schlag eines Glockenhammers noch als Nachhall in den Ohren klingt, wenn das hörbare Geläut schon vorbei ist. Es hatte noch die Umrisse von Schall, ohne den Klang, gleich einer Federzeichnung ohne Farbe.” Armstrong, ein schwarzer Bauer, hat Geld und unendliche Reserven an Geduld und Freundlichkeit. Als unehelicher Sohn eines Edelmanns und einer Dienstmagd setzt er sich für die Außenseiter oder auch für ein entsprechendes Tier ein und tritt tatsächlich wie ein Heiliger auf, was die Figur selbst zu einer der Unglaubwürdigsten des ganzen Romans macht. Auf die Spitze getrieben wird das noch, als er eine lahme Frau heiratet, die eine Augenklappe trägt, um ihr verdrehtes Auge zu bedecken. Mit diesem Auge aber kann sie in die Seele der Menschen sehen, was sie aber nur selten nutzt. Setterfield setzt dieses Paar jedoch ganz bewusst ein, um ihre Version der Vergangenheit zu etablieren, in der die Menschen entweder außergewöhnlich anständig sind, über übersinnliche Fähigkeiten verfügen oder unsagbar kriminell sind. Einer dieser Schurken ist derjenige, der die Entführung eines Kindes geplant hat, und ja: in dieser Geschichte gibt es eine Menge verlorener Kinder. Um das mysteriöse kleine Mädchen, das aus dem Fluss gefischt wurde, und die Jagd nach einem Mörder, der immer noch auf freiem Fuß ist, baut Setterfield einen fantasievollen, detaillierten, atmosphärischen Strom von Ereignissen auf. Nichts wird in diesem Buch je unterschätzt, und nichts ist einfach, es sei denn, es handelt sich um die dösende Kundschaft des Gasthauses oder um die erbärmliche Gestalt der Lily White, Opfer brutaler häuslicher Misshandlungen und noch viel Schlimmerem. Sie steht am einen Ende des Spektrums, während am anderen Ende die Krankenschwester Rita steht, die unverheiratet ist, aus Angst, bei der Geburt zu sterben, wie es zu viele ihrer Patienten getan haben. Sie repräsentiert sowohl die Welt der hausgemachten Medizin vor Penicillin und chirurgischen Eingriffen als auch das aufkommende wissenschaftliche Zeitalter, in dem Fakten und strenge Beobachtung ein neues Verständnis ermöglichen. Der schwer verletzte Mann, dem sie im Gasthaus wieder zu Gesundheit verhilft, ist Henry Daunt, der sich in der unfehlbaren Formel der romantischen Fiktion kopfüber in seinen dienenden Engel verliebt. Setterfield lässt ihre mäandernde Erzählung in der Schwebe zwischen Aberglauben und Vernunft, entscheidet sich aber bei ihrem Stil für das Potential, das im Grotesken und in der englischen Schauergeschichte liegt. Am Ende bin ich hin und her gerissen von dieser Flussfahrt, mag den Stil und das Können der Autorin loben, bin aber mit den Figuren nie wirklich warm geworden, um es genau zu sagen: mit keiner einzigen von ihnen, und das, obwohl die Figurenzeichnung nicht weniger umfassend ist wie der Ton des Romans. Es bleibt eine spezielle Geschichte, die mich einerseits angezogen, aber zu gleichen Teilen auch fortgestoßen hat.
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