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Christoph predigt

92 Episodes

9 minutes | Dec 31, 2021
Unkraut und Weizen
Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!Ihr Lieben, Gottes Ackerfeld in Tailfingen, Am Ende des Jahres stehen wir hier und schauen zurück. Was war gut? Was wird uns bleiben? Wofür können wir dankbar sein? Worauf wollen wir nächstes Jahr achten?"Das Himmelreich gleicht einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte.", erzählt Jesus.So sind wir auch einmal ins neue Jahr gestartet:Mit viel Gutem. Mit gutem Willen und guten Vorsätzen. Mit Hoffnungen für das, was kommen würde. Mit guten Absichten für die Begegnung mit unseren Mitmenschen. Mit gutem Mut, unseren Beitrag zu leisten. Hoffnungsboten zu sein. Friedensstifter zu sein. Mutig für das Gute einzutreten. Das Evangelium zu verkünden in Wort und Tat und allem Wesen.Da ist viel Gutes gesät worden in dieses Jahr hinein.So wie in der Geschichte, die Jesus hier erzählt.Im Markusevangelium gibt es ein ganz ähnliches Gleichnis. Überschrieben ist es oft "von der selbstwachsenden Saat". Da wird von dem Bauern erzählt, der Samen sät und dann heimgeht und sich schlafen legt. Während er schläft, wächst der Weizen und die Frucht geht auf. Der Bauer kann da nicht nachhelfen. Es würde nichts bringen, daneben zu stehen und dem Weizen beim Wachsen zuzuschauen. Oder gar an einem kleinen Hälmchen zu ziehen, damit es schneller wächst. Der Bauer muss das auch nicht. Der Same geht von allein auf. Das Evangelium bringt seine Frucht ohne menschliches Zutun. Das ist die Geschichte, die im Markusevangelium erzählt wird.Auch der Bauer in unserer Geschichte geht nach Hause und legt sich schlafen.Aber dann passiert etwas Unerwartetes. Ein Feind lauert nur auf diesen Moment. Heimtückisch streut er fremden Samen auf das gute Feld. Taumellolch heißt die im alten Orient gut bekannte Pflanze, die gerne zwischen Weizenkulturen wächst. In den frühen Stadien sieht die Pflanze fast genau gleich aus, wie der Weizen. Erst wenn die Ähren kommen, kann man die beiden besser unterscheiden. Im Gegensatz zum Weizen taugt die Frucht des Taumellolch höchstens als Hühnerfutter. Fast alle Pflanzenkulturen sind von einem Pilz befallen, der sie für den Menschen ungenießbar macht. Mischt sich zuviel vom Taumellolch unter das Weizenmehl, kommt es zu Vergiftungserscheinungen. Schwindel und Gleichgewichtsstörungen treten auf. Deshalb auch der Name: Taumellolch.Im alten Orient kannte man solche Geschichten. Gerichtsprotokolle der damaligen Zeit zeugen von derartigem "Saatfrevel", der hart bestraft wurde.So steht der Bauer mit seinen Angestellten am Rand seines Felds. Unkraut und Weizen wachsen munter durcheinander. Dabei hat er doch nur gutes gesät.Wir kennen das auch. Gutes und Böses wachsen auch bei uns oft durcheinander. Selten kann man sie ganz klar trennen. Selten gibt es nur schwarz und weiß.Nun stehen wir da, nach einem Jahr, am Acker unseres Lebens. Auch da zeigt sich Gutes und Böses immer vermischt.Ich denke an unsere Gesellschaft. Ich denke an Großartiges, was Menschen in diesem Jahr geleistet haben. An Ärzte und Pflegekräfte, an Angehörige, die sich bis an die Grenze ihrer eigenen Kräfte um Menschen kümmerten. An Wissenschaftler, die in Rekordzeite Impfstoffe entwickelten. An alle, die bereit waren, anderen zu helfen. An die große Solidarität, die wir an so vielen Punkten gesehen haben.Und mittendrin: So viel, was gut gemeint, aber schlecht gemacht war. So viel Egoismus. So viel an einander vorbei geredet. Menschen, die sich verrannt haben und der Realität nicht mehr zugänglich sind. Wüste Kommentare, Drohungen, Fackelaufzüge vor den Wohnungen von Politikern. Gerede von Umsturz und Revolution. Schattenwelten auf Telegram und anderswo.Unkraut und Weizen.Ich denke an unsere Gemeinschaft hier. So viel Gutes, was geschehen ist in dieser Zeit. So viel Kreativität. Wo Vertrautes nicht mehr möglich war, ist Neues entstanden. Manches provisorisch, anderes wird uns auch nach der Pandemie bleiben und Gewinn bringen. So viele Menschen haben sich engagiert. So viele Taufen. So viele Konfirmationen. So viel Evangelium, so viel Liebe auf unterschiedlichen Wegen. Und nebenher ja auch noch die großen Leuchtturmprojekte, die uns schon länger beschäftigen und die vorangegangen sind in diesem Jahr. Die große Glocke an der Peterskirche läutet wieder. Das Familienzentrum öffnet dieser Tage die Türen zu der renovierten alten Sozialstation. Für unser Gemeindezentrum auf Stiegel schreiten die Planungen voran. So viel Gutes.Und mittendrin ist mir schmerzlich bewusst, wie viel auch nicht möglich war. Wie viel wir absagen mussten. Wie oft wir Menschen damit auch nicht gerecht geworden sind. Und unseren eigenen Ansprüchen auch nicht. Wie Menschen gegangen sind, aus unserer Gemeinde, weil sie sich mit der Kirche nicht mehr identifizieren können. Wie andere uns böse Briefe schreiben, weil sie die Einschränkungen nicht verstehen. Wie oft wir gescheitert sind am Anspruch des Evangeliums, das wir miteinander bezeugen wollen.Unkraut und Weizen.Ich denke an mich selbst.Das ist in meinen Augen ein ganz wichtiger Schritt. Es ist zu einfach, "Unkraut" und "Weizen" nur auf Gruppen von Menschen zu beziehen. Zu einfach, dann immer den anderen als "Unkraut" und sich selbst als "Weizen" zu sehen. Auch da gibt es kein schwarz und weiß. Keine nur guten und nur schlechten Menschen. Unkraut und Weizen wachsen gemischt. Auch in meinem Herzen.Ein persönlicher Rückblick auf das Jahr zeigt mir viel Gutes. Gute Begegnungen. Gute Gespräche. Momente, in denen es mir gut gelungen ist, ein Hoffnungsbote zu sein. Ein Friedensstifter. Ein Mutmacher. Ziele, die ich erreicht habe. Gute Vorsätze, die ich umgesetzt habe. Es ist viel gewachsen, auch in dieser Zeit. Und es ist wichtig, das zu würdigen. Das Gute zu sehen. Gott und anderen Menschen dankbar zu sein. Gutes mitzunehmen ins neue Jahr hinein und zu kultivieren, zu pflegen. Damit der Weizen weiter wächst.Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, kenne ich auch das Unkraut nur zu gut. Auch in meinem Herzen gelingt es dem Bösen immer wieder, Samen zu säen und Wurzeln zu schlagen. Auch da wachsen Dinge, die da nicht hingehören. Manche fallen mir selbst gar nicht auf. Aber anderen. Von manchen weiß niemand anders, nur Gott. Und ich.Unkraut und Weizen.Und genau an dieser Stelle wird mir bewusst, wie sehr ich seine Gnade brauche. Wie sehr wir alle seine Gnade brauchen.Wie bei dem Bauern, der dort am Feldrand steht, stellt sich ja auch bei mir, bei uns, die Frage nach dem Umgang mit Weizenfeld voll Unkraut.Schnelle, harte Schnitte scheinen oft angebracht. "Willst du also, dass wir hingehen und es ausjäten?", fragen die Angestellten.Schnelle, harte Schnitte, wollen wir oft machen. Wir trennen in schwarz und weiß, gut und böse. Viel zu schnell sind wir dabei, unser Urteil zu fällen.Der Bauer, von dem Jesus spricht, ist vorsichtiger. Er weiß, dass sich nun, da die Ähren sich zeigen, die Wurzeln von Unkraut und Weizen längst verflochten haben. Ihm ist das Gute zu wichtig, um es einfach unbedacht mit dem Bösen auszureißen.Das wäre vielleicht ein guter Vorsatz für 2022: Von dem Bauern aus der Jesusgeschichte zu lernen. Geduld zu zeigen. Das Gute zu bewahren, statt schnell alles ausreißen zu wollen.Und heute? Hier? Für mich selbst?Wie gut, dass ich Gott als den erlebe, der keine schnellen Schnitte macht. Auch in meinem Herzen wächst Unkraut und Weizen vermischt. Wenn Gott ein schneller Ausreißer wäre, dann hätte das Ackerfeld meines Lebens keinen Bestand vor ihm. Wie gut, dass das Gute in mir ihm wichtig ist!Mit diesem gnädigen Gott will ich gerne ins neue Jahr gehen!Amen.
8 minutes | Dec 25, 2021
Er liebt mich
Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!Geliebte Kinder Gottes in Bitz/Burladingen, aus dem ersten Johannesbrief. Aus dem 3. Kapitel.Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum erkennt uns die Welt nicht; denn sie hat ihn nicht erkannt. Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen: Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. (1. Johannes 3,1-2)Seht!Seht, liebe Kinder Gottes in Bitz/Burladingen!Seht, welche Liebe!Kann man Liebe denn sehen?Sie liebt mich. Sie liebt mich nicht. Sie liebt mich. Sie liebt mich nicht. Als Kind konnte man das einfach an den Blütenblättern eines Gänseblümchens abzupfen. Mit zunehmendem Alter haben wir alle gelernt, dass das nicht ganz so einfach ist.Er liebt mich. Er liebt mich nicht. Sie seufzt, als sie überlegt, was aus ihrer Liebe geworden ist. Ein Herz und eine Seele waren sie einst. Zeit für einander, übersprudelnde Gefühle, Zärtlichkeit. Seit langem ist das immer weniger geworden. Sie hat fast das Gefühl, sie ist ihm inzwischen egal. Und die Blicke, mit denen er die andere anschaut, versetzen ihr Stiche ins Herz. "Ich liebe dich", steht auf seiner Geburtstagskarte. Ist das wahr? Oder nur eine Floskel?Seht, welche Liebe!Seht, welche Liebe?Gott liebt mich. Gott liebt mich nicht. Gott liebt mich. Gott liebt mich nicht. Er ist verwirrt. Früher war das alles klar. Ein kindlicher Glaube, der einfach davon ausging, dass Gott immer das Beste mit ihm vorhat. Bis die Mutter krank wurde. Corona. Intensivstation. Dabei hatten sie doch so aufgepasst. Und dann so gebetet. So gehofft und geglaubt. Und dann ist sie trotzdem gestorben. "Gott liebt dich." steht auch auf der Kondolenzkarte. Aber es klingt hohl, mit bitterem Nachgeschmack. Ist das denn so? Ist da überhaupt jemand oben in diesem grauen Himmel? Und wenn ja, denkt er dann wirklich an mich?Seht, welche Liebe!Seht, welche Liebe?Liebe ist doch zunächst einmal nicht sichtbar, nicht greifbar. Ein Konzept, vielleicht. Ein Gedanke. Ein Gefühl, dass sich tief drinnen regt. Die berühmten "Schmetterlinge" im Bauch. Das Herz, das höher schlägt.All das kann man nicht sehen. Zumindest nicht von außen. Vielleicht am Gesichtsausdruck, an der Gestik, an der Körperhaltung. Das ist dann Interpretationssache. Vielleicht gibt es auch deshalb so oft irgendwelche Missverständnisse, wenn es um Liebe geht.Liebe kann man nicht sehen. Sie muss erst sichtbar gemacht werden.Fünf "Sprachen der Liebe" will der bekannte amerikanische Autor Gary Chapman ausgemacht haben: Liebevolle Worte. Zeit für einander. Hilfe. Zärtliche Berührungen. Geschenke, die von Herzen kommen. 5 "Sprachen der Liebe", die sichtbar machen sollen, was sonst unsichtbar bleibt. "Ja", kann man jetzt sagen. "Jetzt sehe ich, dass da Liebe ist."Seht.Seht, welche Liebe!Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen...An Weihnachten muss man nicht lange suchen, um auf die Spuren dieser Liebe zu stoßen."Seht", sagt dort der Engel auf dem Feld. "Seht die große Freude... und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen."Seht!Da wird sie nämlich sichtbar, die große Liebe Gottes. Sichtbar, erfahrbar, begreifbar, wie nie zuvor. Nicht nur in großen, salbungsvollen Worten. Keine Liebesschwüre aus der Ferne, vom Himmel herab, vielleicht auch nur vermittelt durch die Botschaft irgendwelcher Propheten, die für sich in Anspruch nehmen, im Auftrag Gottes zu sprechen. Nein: Gottes Liebe zeigt sich so, dass es deutlicher nicht mehr geht. Er kommt selbst. Der unendliche Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, macht sich klein und begibt sich hinein in seine Schöpfung, hinein in diese Welt. Er kommt zu seinen Menschen, um seine Liebe zu zeigen. Und das auch nicht als großes, überlegenes, erhabenes Gegenüber. Seine Liebeserklärung ist nicht herablassend, kommt nicht von oben herab. In diesem Kind in der Krippe wird es überdeutlich: So sehr liebt Gott uns seine Menschen, dass er bereit ist, einer von uns zu werden. Die Evangelien erzählen von seiner Liebesgeschichte, durch alle Höhen und Tiefen des Menschseins hindurch bis hin zum Äußersten -- bis zum Sterben selbst. Bis zum Tod am Kreuz, für uns -- Gott zeigt, wie lieb er uns hat.Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen...Paulus schreibt davon, was Gott aus Liebe für uns alles bereit ist aufzugeben: "Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz." (Phil 2,6-8). In den unsterblichen Worten des Johannesevangeliums: "Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben." (Joh 3,16)Die Hirten gehen voll Gotteslobs wieder zurück zu ihren Herden. Sie haben gesehen. Sie haben verstanden. Sie sind geliebt.Diese Liebe macht etwas mit den Geliebten.Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch!In diesem Gottessohn, der in die Welt kommt und Mensch wird, nimmt Gott uns an, aus Liebe. Am Ende dieser Liebesgeschichte ist nicht mehr nur einer "der Sohn"-- im Gegensatz zu allen anderen. Nein, weil Gott das Leben seines Sohnes mit uns teilt, sind wir nun alle "Gottes Kinder." Das ist es, was seine Liebesbotschaft sagt. Wir auch. Wir sind Gottes geliebte Kinder!Seht! Seht doch!Das ist es was ihr sehen werdet. Das ist das letzte Blütenblatt des Gänseblümchens. Das ist es, was herausleuchtet aus der Nacht von Bethlehem:Gott hat uns nicht vergessen. Er liebt uns mehr als alles andere. Für ihn sind wir seine Kinder. Er ist bereit, alles für uns zu tun. Und er hat es getan. In Jesus.Noch einmal Paulus: "Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?" (Römer 8,32)Und Johannes:Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch!Amen.
9 minutes | Dec 24, 2021
Nie war mehr Lametta
Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!Liebe kleine Weihnachtsgemeinde,Wahrscheinlich hättet ihr euch diesen Tag auch ganz anders vorgestellt. Heiligabend, der 24. Dezember, spielt ja in unserer Tradition eine ganz große Rolle. Das ist der Tag, an dem die Kirchen sich füllen. Das ist der Tag, an dem alles herausgeputzt wird, glänzend und geschmückt. An dem von vorne die Weihnachtskrippe strahlt und der Adventskranz an dem alle vier Kerzen brennen. Und der Christbaum mit seinen Lichtern und Kugeln. Von hinten braust die Orgel in den höchsten Tönen "O du fröhliche", dass man den Eindruck hat, das Dach der Kirche hebt gleich ab. Wir stehen dicht an dicht und singen die alten Weihnachtslieder mit einer Fröhlichkeit und Andacht, die man sonst das ganze Jahr nicht zu kennen scheint. Und am Ende machen wir die Lichter aus und ziehen hinaus, mit Kerzen in der Hand, "Stille Nacht" singend und bereit, das Kommen des Gottessohns auch zu Hause mit unseren Liebsten noch fröhlich weiterzufeiern.Und jetzt stehen wir hier, frierend im nasskalten Sudelwetter. Ein bisschen Christbaum, ein bisschen Kerzen, ein bisschen Orgel durchs Fenster und ein ganz klein wenig von der großen Weihnachtsstimmung, die wir so lieben. Und dazu ein ganz großes bisschen Wehmut und Traurigkeit über alles, was diesmal nicht möglich ist. Früher war mehr Lametta.Klein ist Weihnachten diesmal. Irgendwie geradezu mickrig.Klein ist dieses Weihnachten auch für die geworden, die dieses Jahr ganz alleine feiern müssen. Weil der Ehepartner dieses Jahr gestorben ist -- an Corona oder anders. Das tut weh, das vertraute Fest ohne den geliebten Menschen.Klein ist dieses Weihnachten für die geworden, die keinen Besuch empfangen können. Manche sind in Quarantäne. Andere sind durch Grenzen getrennt, die das Reisen schwierig machen. Manchmal sind es auch ganz andere Gründe, die die Nächsten am Kommen hindern. Und manche wurden--das ist die traurige Realität--vielleicht schlicht und einfach vergessen.Klein ist dieses Weihnachten geworden. Für alle, die ihre Weihnachtsstimmung irgendwie reinquetschen sollen zwischen Doppelschichten auf der Intensivstation und im Rettungsdienst. Die in den wenigen Pausen eigentlich nur noch die Augen zu machen wollen und wenigstens ein paar Minuten mal die Füße hochlegen, bevor es weitergeht, im Minutentakt.Klein ist dieses Weihnachten für viele geworden, deren Weihnachtsstimmung durch Zukunftsängste verdrängt werden. Ganz klein sieht es aus, neben den astronomischen Zahlen der vierten Welle und der fünften, die am Horizont schon zu lauern scheint.Klein ist dieses Weihnachten für die geworden, die gar keinen Ort haben, um zu feiern. Für manche ist Weihnachten gerade mal so groß wie der Schlafplatz auf dem Deck des Rettungsschiffs im Mittelmeer, das sie aufgegabelt hat und jetzt einen sicheren Hafen sucht. Oder wie die trockene Fläche unter irgendeiner Plane am Grenzzaun zur "Festung Europa."Klein ist Weihnachten diesmal. Irgendwie geradezu mickrig.Ist das noch Weihnachten? Geht uns nicht gerade alles verloren, was uns wert und heilig ist?Nein. Das ist Weihnachten!Das war schon immer so.Klein.Und mickrig.Schaut, als damals Weise aus dem Osten kamen, dem Stern nach, um den neuen König zu besuchen, da staunten sie über das, was sie fanden. Nicht im Palast. Nicht beim König. Bei den mächtigen wusste keiner Bescheid.Irgendwo haben sie dann eine alte Schriftrolle hervorgekramt und eine alte Prophetie abgestaubt von Micha von Moreschet, aus einem längst vergangenem Jahrhundert.Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Tausenden in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist. Indes lässt er sie plagen bis auf die Zeit, dass die, welche gebären soll, geboren hat. Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Israeliten. Er aber wird auftreten und sie weiden in der Kraft des Herrn und in der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen; denn er wird zur selben Zeit herrlich werden bis an die Enden der Erde. Und er wird der Friede sein. Wenn Assur in unser Land fällt und in unsere festen Häuser einbricht, so werden wir sieben Hirten und acht Fürsten dagegen aufstellen. (Micha 5,1-4)Bethlehem.Heute hätten sie erst einmal Google Maps geöffnet.Bethlehem? (Efrata, für alle, die sich wundern, ist übrigens vermutlich der Name einer noch kleineren Siedlung in der Nähe von Bethlehem.)Bethlehem? Wieso Bethlehem?Bethlehem ist klein und unbedeutend. Dort findet nichts interessantes statt. Dort wohnt niemand von Bedeutung. Bethlehem ist Provinz. Bethlehem ist mickrig.Schaut, Weihnachten war schon immer klein.Hört doch auf die Weihnachtsgeschichte.Ein junges Paar, eine Teenagerschwangerschaft unter seltsamen Umständen, ein einfacher Bauarbeiter. Weit weg von zu Hause. Eine Geburt in prekären Verhältnissen. Nicht einmal ein Schlafplatz. Eine Futterkrippe muss reichen. Hirten zu Besuch. Stinkende Schafwächter.Armselig. Mickrig. Klein.Weihnachten war immer so.Tausende Städte, tausende Menschen, tausende Situationen wären passender gewesen für ein Fest zur Ehre des kommenden Gottessohns.Aber Weihnachten war immer so.Mickrig und klein und garantiert nie mit Lametta.Und genau darin steckt der Kern von Weihnachten.Schaut, Gott macht sich klein aus Liebe zu den Menschen. Der unendliche, unbegreifliche Schöpfer des Universums zwängt sich hinein in den Körper eines kleinen, neugeborenen Windelbabys.Gott macht sich klein und kommt nach Bethlehem.Gott macht sich klein und kommt in mickrige Umstände.Gott macht sich klein und kommt zu unbedeutenden Menschen.Gott macht sich klein und kommt in das Klein-Klein unserer Welt.So war Weihnachten immer. Nie mehr Lametta.Und daran hat sich 2021 nichts geändert.Gott kommt ins Kleine.Er kommt in unsere einsamen Wohnzimmer.Er kommt in unsere tristen Gedanken.Er kommt in unsere Krankenstationen und Intensivstationen.Er kommt in unsere kraftlosen Pausen.Er kommt in Rettungsboote und Flüchtlingslager. Er sitzt auf Parkbänken und unter Brücken. Er kommt in Kälte und Armut und Not.Er kommt in unsere Zukunftsängste.Er kommt zu vergessenen Menschen.Er kommt sogar in unsere nasskalten Weihnachtsgottesdienste.Und wie er kommt!Er kommt als der Herr von Ewigkeit. Er kommt als der Hirte in der Kraft des Herrn und in der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes. Er bringt Sicherheit und Geborgenheit. "Er wird der Friede sein", sagt Micha."Siehe ich verkündige euch große Freude", sagt der Engel, "... und Friede auf Erden."Gott kommt und er bringt sich selbst mit in seiner ganzen Herrlichkeit.Er bückt sich durch deine Tür. Er zwängt sich in dein Wohnzimmer. Du brauchst nicht einmal einen geschmückten Baum, um ihn zu empfangen. Er bringt die Herrlichkeit schon mit. Freude. Frieden. Sicherheit. Geborgenheit und Liebe.Genau dann wird es Weihnachten. Ganz klein. Fast mickrig. Und dann ganz groß, weil er es ist, der kommt.Nie war mehr Lametta.Amen.
8 minutes | Dec 18, 2021
Wie soll man sich da freuen?
Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!Begnadete,Sagt mal: Wie soll man sich da eigentlich freuen?Wie soll man sich da freuen? Wie soll das gehen?Da kommt ein Engel. Überraschend. Ich meine, wer wäre da nicht überrascht? Plötzlich steht der Bote Gottes vor ihr. Aus dem Nichts. Einfach so."Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mir dir!"Sie versteht das nicht.Natürlich kennt sie die Geschichten. Die Erzählungen von Menschen, die Gott beauftragt hat, in seinem Namen zu reden und zu handeln. Sie kennt die alten Traditionen von Elia und GIdeon, von Abraham und Jakob und all den anderen. Das hat man ihr von Kind auf erzählt. Die von Gott beauftragten, das sind die Helden ihrer Kindheit und Jugend. Vielleicht hat sie sich damals manchmal gefragt, wie es wäre, wenn ihr plötzlich so ein Engel erschiene, in himmlischer Mission. So wie wir uns ja auch in die Helden unserer Geschichten hineinversetzen und hineinträumen."Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mir dir!"Plötzlich steht er da. Ihr Herz setzt einen Schlag aus.Sie versteht das nicht.Was soll denn Gott mit ihr schon anfangen?Fürchte dich nicht.Du hast Gnade bei Gott gefunden.Ganz Großes hat Gott vor: Ein Sohn. Sohn des Höchsten. Jesus. Jeschua. "Gott rettet." "Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit und sein Reich wird kein Ende haben."Vor ihrem inneren Auge tauchen Bilder auf. Bilder aus vergangenen Zeiten. Bilder, die sie auch nur aus Geschichten kennt. Bilder von Glanz und Größe, von den Königen aus alter Zeit. Und Bilder von Verheißung: Von Gott, der sein Volk nicht vergessen hat. Von Gott, der die Treue hält und der eingreift in die Weltgeschichte, zu Gunsten des Volks, das er sich erwählt hat. Ihrem Volk. Von Gott, der seinen ewigen König schickt. Immer größer sind sie geworden, diese Verheißungsbilder, über die Jahrhunderte. Von Gottes Versprechen, bei den Königen des kleinen Volks Israels zu sein bis hin zu den riesigen Bildern von dem, den wir heute "Tritojesaja" nennen -- von Gott, der die ganze Welt regiert.Du hast Gnade bei Gott gefunden.Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären.Einen... Sohn... Wie bitte, was?Jäh reißt sie die Botschaft aus den herrlichen Verheißungsbildern zurück in die Realität.Ein Sohn? Wie soll das gehen?In ihrem Kopf läuft jetzt ein ganz anderer Film. Sie sieht sich in Nazareth, ihrem Dorf. Ein kleiner, unbedeutender Flecken, wo jeder jeden kennt. Maria, das junge Mädchen. Kaum ein Teenager nach unserem heutigen Verständnis. Eine junge Verlobte, in ihrer Zeit. Das heißt, ihre Eltern haben schon einen ausgesucht, den sie einmal heiraten wird. Bald sollte es soweit sein.Sie sieht sich die Dorfstraße hinunterlaufen mit einem wachsenden Babybauch. Sie fühlt die stechenden Blicke der anderen, die sie verfolgen. Sie kann das Getuschel hinter vorgehaltenen Händen schon hören. "Maria... das ist doch die... und dabei ist sie noch gar nicht verheiratet." "Hast du schon gehört, was sie erzählt?... Ein Engel... der Heilige Geist ... lächerlich." Sie sieht sich dem Spott der anderen preisgegeben. Sie sieht die enttäuschten, verletzten Blicke ihrer Eltern. Sie kann schon spüren, wie sie sich von ihr zurückziehen. Die Scham. Die Einsamkeit. Die Leere.Sie sieht die verschlossenen Türen. Sie ahnt, dass es hier kein zu Hause mehr geben wird. Sie sieht sich schon gehen, mit einem kleinen Bündel und einem großen Bauch. Wohin? Wohin geht man denn, wenn man kein Leben mehr hat? Keine Freunde, keine Ehre, keine Zukunft?Fürchte dich nicht.Du hast Gnade bei Gott gefunden.Ganz Großes hat Gott vor.Begnadete,Sagt mal: Wie soll man sich da eigentlich freuen?2021 hören wir diesen Text in einer ganz anderen Zeit. Wir wissen, wie Marias Geschichte zu Ende geht. Wir kennen das Kind in der Krippe, den König und Gottessohn. Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er in die Welt gekommen, hat Fleisch angenommen von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden. Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus, hat gelitten und ist begraben worden, ist am dritten Tage auferstanden nach der Schrift und aufgefahren in den Himmel. Er sitzt zur Rechten des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit zu richten die Lebenden und die Toten. Seiner Herrschaft wird kein Ende sein.Nun jauchzet, all ihr Frommen, in dieser Gnadenzeit, weil unser Heil ist kommen, der Herr der Herrlichkeit, zwar ohne stolze Pracht, doch mächtig zu verheeren und gänzlich zu zerstören des Teufels Reich und Macht.2021 hören wir auch diese Worte in einer ganz anderen Zeit. Weihnachten steht vor der Tür, aber so vieles ist anders als sonst. Klar, letztes Jahr waren wir auch in der Krise. Da mussten sogar die Weihnachtsgottesdienste abgesagt werden. Aber wir hatten Hoffnung, dass im Sommer alles vorrüber wäre. Und jetzt?Wie soll man sich denn freuen, wenn wieder so viel abgesagt wird?Wie soll man sich denn freuen, wenn sich viele wieder nicht treffen können?Wie soll man sich freuen, wenn die Oma auf der Intensivstation liegt?Wie soll man sich freuen, wenn die Mutter gerade gestorben ist?Wie soll man sich freuen, wenn der Job auf der Kippe steht?Wie soll man sich freuen, wenn man einsam zu Hause sitzt?Wie soll man sich freuen, wenn kein Ende in Sicht ist?Wie soll man sich freuen, wenn sich nahe Verwandte und Freunde völlig unzugänglich in irgendwelche abstrusen Verschwörungserzählungen flüchten?Begnadete,Sagt mal: Wie soll man sich da eigentlich freuen?Begnadete...Das ist vielleicht genau der entscheidende Punkt.Begnadete,lasst uns mit Maria auf den Engel hören. Der bringt nämlich auf den Punkt, warum Maria am Ende nicht in Depression versinkt, sondern sich tatsächlich freuen kann.Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich über Gott meinen Heiland.Begnadete. Das ist es was der Engel sagt.Begnadete. Du hast Gnade bei Gott gefunden.Ist das allein nicht Grund zur Freude?Begnadete. Gott schaut dich mit Liebe an. Und wo zeigt er das deutlicher als gerade in dem Sohn, der da für uns gekommen ist. Wir sind Begnadete!Begnadete, der Herr ist mit dir! Das ist es doch, was uns Gott in Jesus zeigt. Dass er mit uns geht. Dass es nie so dunkel ist, dass Gott nicht mit seinem Licht kommen würde und alles hell macht. Dass es keine Situation und keine noch so schwierigen Momente gibt, in die Gott nicht bereit wäre, mit uns hineinzugehen.Begnadete: Gott ist mit uns!Und: Bei Gott ist kein Ding unmöglich.Begnadete, lasst uns auf ihn schauen und auf den Jesus aus der Krippe, den König, dessen Reich kein Ende hat. Auch 2021 nicht. Gott ist mit uns.Darüber kann man sich freuen.Amen.
9 minutes | Dec 12, 2021
Das Geheimnis von Weihnachten
Psst.Ein Geheimnis.Hört gut zu und spitzt eure Ohren und ich will euch vom Geheimnis reden.Vom Geheimnis von Weihnachten.Es ist eine ganz besondere Zeit, diese Tage zwischen dem ersten Advent und dem Heiligen Abend. Während es draußen dunkel ist und kalt und ungemütlich, zünden wir eine Kerze nach der anderen an. Das warme Licht der Kerzen vertreibt die Dunkelheit und taucht alles in diesen ganz besonderen Schein, den es irgendwie nur kurz vor Weihnachten gibt. Plätzchenduft liegt in der Luft und der leise Gesang von Weihnachtsliedern. Advent ist eine Zeit für alle Sinne, mit Zimtsternen und Tannenzweigen und Schneeflocken und glänzenden Christbaumkugeln, mit Drehorgelspielern auf den Straßen und Lebkuchengeschmack im Mund, mit wehmütig romantischen Filmen im Fernsehen und Lichtern, vielen, vielen tausend Lichtern überall. Den "Spirit of Christmas", den besonderen Geist der Weihnachtszeit beschwören amerikanische Filme -- und meine amerikanischen Freunde auch -- und malen ein ganzes Universum von Rentieren und Elfen und Ho-Ho-Ho-rufenden Weihnachtsmännern in diese Zeit hinein. Egal, aus welcher Weihnachtstradition man kommt: Diese Zeit des Jahres ist eine ganz besondere, herzerwärmende, geheimnisvolle Zeit.Und wir sind die Geheimnisträger.Fast so was wie weihnachtliche Geheim-Agenten.Vom Geheimnis von Weihnachten.Denn wir wissen, dass das Geheimnis der Weihnachtszeit nicht das Vanillekipferlrezept von Tante Elsa ist, oder die Frage, welches Geschenk für mich mein Ehepartner wohl dieses Jahr bis zum Heiligabend in seiner Sockenschublade versteckt. Wir kennen das wahre Geheimnis von Weihnachten, das eigentlich gar nicht geheim ist, sondern eher "geheimnisvoll", weil es aller Welt nicht unbekannt ist, aber sich letzten Endes selbst von seinen intimsten Kennern nur als unbegreifliches Geheimnis erfahren lässt. Man kann es mit einem einzigen Satz zusammenfassen und doch in Millionen von Sätzen nie völlig erfassen -- dass Gott nämlich zu uns kommt und Mensch wird. Gott. Ein Mensch. Dass er das Leben mit uns teilt. Dass er sich herunterbeugt, sich hineinkniet in seine Welt, mit hochgekrempelten Ärmeln und schmutzigen Händen. Ja, sogar mit schmutzigen Windeln. Denn dieses Kind in der Krippe, diesen Jesus von Nazaret, den können wir sehen und begreifen und beschreiben und versuchen einzuordnen. Aber das Geheimnis, das können wir nie auch nur ansatzweise begreifen: Dass der unendliche Gott sich aus Liebe zu seinen Menschen endlich macht in diesem Jesus. Endlich. Im wahrsten Sinne des Wortes, hindurch durch die ganzen Begrenztheiten des menschlichen Lebens bis hin zum Ende aller Enden -- bis hin zum Tod selbst. Man kann über Weihnachten, über den fleischgewordenen Gott nicht nachdenken, ohne ihn nicht auch gleich dort am Kreuz mitzudenken. So tief, so weit geht es, das Geheimnis von Weihnachten, das keiner auf der Welt voll ergründen und erfassen kann. Den gescheitesten Denkern der Welt ist es -- in des Apostels Worten -- "eine Torheit." "Uns aber, die wir daran glauben, ist es eine Gotteskraft."Das Geheimnis von Weihnachten, vom heruntergekommenen Gott.Was dieses -- unser -- Geheimnis aber von allen anderen Geheimnissen der Welt unterscheidet, ist, dass wir es nicht verschweigen müssen. Nicht einmal verschweigen sollen. Im Gegenteil: Dieses Geheimnis ist unser Auftrag. Das soll man uns nachsagen, meint der Apostel, dass wir "Handlanger" Christi seien und treue Verwalter dieses Geheimnisses. Wenn nämlich die unergründliche Liebe Gottes in Jesus Christus aufleuchtet wie nie zuvor, dann muss dieses Geheimnis weiterleuchten in unserer Zeit, an unserem Ort -- ja, hier in Burladingen -- durch die, in denen Jesus Christus weiterlebt mit seinem Heiligen Geist. Durch uns. Durch wen denn auch sonst?Schaut, "Verwalter" sind hier nämlich keine "Zusammen-halter". Keine Bewahrer, die das Geheimnis geheim weitertragen, so dass nur ein innerer Kreis, eine kirchliche Elite, ein besonderer Club davon weiß und es erfahren kann. Verwalter und Diener sind die, die helfen, es auszuteilen, an alle zu verteilen, bis keinem mehr entgehen kann, was hier geschieht und geschehen ist.Das Geheimnis von Weihnachten, vom Gott, der zu uns kommt.Tun wir das denn? Ist das denn so?Advent ist von je her eine Zeit der Vorbereitung, eine Zeit der Zu-bereitung, zur der auch das prüfende Hinterfragen des eigenen Lebens gehört. Im Licht des Gottes, der uns entgegenkommt, wird nämlich manches sichtbar, was ich sonst auch vor mir selbst gerne verborgen halte. Leuchtet aus mir denn noch seine unbegreifliche Liebe für die Welt? Kann man sie an mir sehen? Ist sie heller und klarer als die grauslig blau blinkende Weihnachtsdekoration an der Fassade meines Nachbarn?Oder in Paulus' Worten: Bin ich ein treuer Haushalter?Diese Adventszeit stellt mich vor die Frage, wie es ganz praktisch aussehen kann, dass der liebende Gottessohn aus mir spricht, in Wort und Tat und allem Wesen. Was das heißén könnte, ganz praktisch, hier und heute in Burladingen und in den Dörfern drum herum. Und vielleicht muss ich das Rad da gar nicht neu erfinden, sondern kann aus dem Tagesevangelium heute von dem lernen, der damals schon dem Kommen Gottes den Weg bereitet hat -- von Johannes."Was sollen wir tun?"Die Frage war eigentlich immer die selbe.Von Ehrlichkeit und Integrität redet er dann. Vom Verzicht auf Gewalt, vom Trachten nach Gerechtigkeit und vom Geben aus dem Überfluss, aus dem ich selbst lebe -- sei es mein Geldbeutel, mein Kühlschrank oder meine Garderobe. Von Zuwendung zum anderen, von Verzicht, von -- Liebe. Von nichts anderem eigentlich, als von dem, was Jesus selbst vorgelebt hat. So simpel! Und doch muss es jeder und jede Einzelne für sich am eigenen Platz zur eigenen Zeit immer wieder neu durchbuchstabieren, was das ganz praktisch heißt. In Burladingen. Im Advent 2021. In der Coronazeit. Im lauten Feld der Meinungen. In Zeiten von Distanz und Verlust und Einsamkeit.Ob ich das schaffe? Ob ich da treu sein werde?Während ich mich bange selbst hinterfrage, fängt auch bei mir das Geheimnis von Weihnachten, vom Gott, der zu uns kommt, wieder neu zu leuchten an. "Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens", wie der Engel es damals schon verkündete, fängt ja da an, wo er kommt, wo er da ist. Und -- geheimnisvolles Geheimnis aller Geheimnisse -- er ist ja da. Bei uns. Bei mir. In mir.Und -- vielleicht -- auch durch mich in seiner Welt?Möge seine unergründliche, geheimnisvolle Liebe in uns und um uns und durch uns leuchten in dieser Adventszeit.Amen.
7 minutes | Dec 5, 2021
Reiß die Himmel auf
Der Himmel ist grau, neblig trüb. So wie die matschige Straße, auf der mein Auto in den Kurven rutscht. Draußen heult der Wind um die Häuserecken. Die nassen Schneeflocken kommen mir waagrecht entgegen. Es ist furchtbar. Das Wetter passt zur tristen Stimmung. Zu den Nachrichten: Neue Regeln. Weitere Bedingungen. Noch mehr abgesagt. Zahlen die steigen. Und keine Aussicht auf Besserung.Der Himmel ist grau.Auch über meine Nachbarin, die mit ihrem kleinen Geschäft in der Stadt jetzt kaum noch Hoffnungen auf das Weihnachtsgeschäft hat. Über den Kindern, die sich aufs Krippenspiel gefreut hatten. Über dem alten Mann ein paar Häuser weiter, der sich nicht mehr raus traut aus Angst, und der jetzt ganz allein zu Hause hockt. Über der Familie, deren Oma auf der Intensivstation um ihr Leben kämpft. Über Pflegekräften und Ärzt:innen, die vor Erschöpfung nicht mehr wissen, wohin, während sich die allerletzten Betten auch noch füllen. Über uns.Der Himmel ist grau. Und verschlossen.O Heiland, reiß die Himmel auf!Ich spüre es schon körperlich, die Not, die schlechten Nachrichten. Corona. Klimakrise. Spannungen. Spaltung. Und die immer wieder die Einzelschicksale, die ich begleiten darf. Ich starre auf den Boden. Mein Nacken ist schon ganz verspannt. Der Rücken tut weh von der gefühlten Last, die wir alle tragen in dieser Zeit. Ich starre auf den Boden. Der Boden ist matschig und grau.Wie der Himmel über ihm. Der verschlossene Himmel.O Heiland, reiß die Himmel auf.Wo bleibst du, Trost, der ganzen Welt?Hie leiden wir die größte Not...Kopf hoch!"Kopf hoch", höre ich ihn sagen. "Seht auf und erhebt eure Häupter!"Kopf hoch!Das klingt so nach Durchhalteparole. Nach: Nur noch ein kurzes Stück. Nur noch ein wenig ertragen. Nur noch ein kleines bisschen, dann haben wir's geschafft. Ein paar Impfungen noch. Ein paar Opfer zu bringen. Ein paar Sonderschichten im Krankenhaus. Ein paar einsame Tage zu Hause. Ein paar triste Adventssonntage ohne Singen. Ein paar Schulstunden mit Maske.Kopf hoch!Das wird schon. "Wir schaffen das!" Eine Art Angela Merkel und Bob der Baumeister in einem.Kopf hoch!Die Regenbogen vom letzten Jahr sieht man kaum noch in den Fenstern. "Alles wird gut", stand damals drauf.Echt jetzt? Alles wird gut?"Jetzt war sie zwei, drei Tage stabil", hat man der Familie der Oma auf der Intensivstation am Wochenende gesagt. "Wahrscheinlich ist sie jetzt langsam über den Berg." Am Sonntagabend kam der Anruf aus dem Krankenhaus. Sie konnten sich gerade noch verabschieden. Am Freitag haben wir sie beerdigt.O Heiland, reiß den Himmel auf!"Kopf hoch", höre ich ihn sagen. "Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht."Erlösung."'Unser Erlöser', das ist von alters her dein Name", sagt der Prophet an einem ähnlich grauen Tag. So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, Herr, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name. (Jesaja 63,15-16)O Heiland, reiß den Himmel auf.Da wage ich es, den Blick zu heben. Nicht zum wolkenverhangenen, grauen Himmel. Darüber hinaus.Es ist doch Advent!Mein Blick fällt auf ihn, den Herrn, der gekommen ist, in diese graue, triste Welt. Der schon einmal die Himmel aufgerissen hat und gekommen ist in einem Kind, in seinem Sohn. Der selbst Mensch geworden ist. Erlöser. Retter. Heiland. Heil-macher. Der Heil und Leben mit sich bringt. In dem die Herrlichkeit Gottes Fleisch wurde, Mensch. Der das menschliche Leben auf und an sich nahm, durch alle grauen Tage hindurch bis hin zum Sterben selbst, zum Tod am Kreuz. Der schon einmal einen Vorhang zerrissen hat, der uns von ihm trennte.Und der versprochen hat, wiederzukommen.Schaut. War das nicht ein Blinken? Schimmert da nicht etwas durch die grauen Wolken?Eifer und Macht. Große, herzliche Barmherzigkeit. Vater. Erlöser. Advent. Er kommt. Er wird kommen, das ist sicher.Der Heiland reißt die Himmel auf.Die dick grauen, wolkenverhangenen, bleiernen Himmel über uns.Er kommt und führt mit starker Hand vom Elend hin zum Vaterland."Kopf hoch", höre ich ihn sagen. "Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht."Ich starre in den Himmel. Ich kann die Augen nicht mehr abwenden von dem, was hinter all dem Grau entgegenschimmert.Meine Nackenmuskeln straffen sich. Mein Rücken wird gerade. Ich richte mich auf. Die Schultern gehen zurück.Ich schaue mutig nach vorne.Meine Erlösung naht. Mein Heiland reißt die Himmel auf.Das ist meine Hoffnung:Auch hat man es von alters her nicht vernommen. Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren. (Jesaja 64,3)Der Himmel ist grau. Aber die Hoffnung scheint mitten hindurch.Amen.
9 minutes | Nov 28, 2021
Der Tag kommt
IEine Kerze. Ein Licht. Ein einziges nur, aber das wäre schon was: Ein Licht im Dunklen. Das wäre fein. Ein Licht im Dunkeln dieser Zeit, dieser beklemmenden, sorgenvollen, hoffnungsarmen Zeit. Corona. Klimawandel. Armut, Kriege, Flucht und Heimatlosigkeit. Die offene Schere zwischen Arm und Reich. Einsame Menschen. Kranke Menschen. Sterbende Menschen. Verzweiflung und Dunkelheit scheinen überhand zu nehmen. Das war damals in Israel so, zu den Zeiten Jeremias und das ist heute so, hier bei uns, 2021 in Deutschland, in Tailfingen.Wenn da doch nur Licht wäre -- ein kleines Licht, im Dunkeln. Am Ende des Tunnels. Hoffnung. Friede. Schalom. Gerechtigkeit.Gut, dass wir Gott haben. "So gewiss der Herr lebt, der das Volk Israel herausgeführt hat aus Ägypten" Erinnerung an Gottes große Taten. Und Hoffnung, dass er es wieder tut. Er ist ja noch derselbe wie damals. Der "Ich bin für euch da", der er immer war. Hoffnung, dass er das Licht bringt. Hoffnung, dass er für uns heute wieder Friede schafft und Gerechtigkeit.Gerechtigkeit...IIStatements der Konfis:Gerechtigkeit bedeutet für mich, dass jeder Mensch gleich behandelt wird. (Philemon)Für mich steht Gerechtigkeit dafür, dass alle gleich akzeptiert werden und gleich behandelt werden sollten und jeder das bekommen sollte, wo er will. (Romana)Für mich ist Gerechtigkeit, dass niemand in Armut lebt oder nicht zur Schule gehen kann. (Emily)Gerechtigkeit bedeutet für mich, dass alle Menschen das gleiche Recht haben und das Gleiche machen können. (Marco)Gerechtigkeit bedeutet in meinen Augen, jeden mit Respekt zu behandeln und jeden [zu] akzeptieren, wie die sind. (Gina)Gerechtigkeit ist für mich, wenn jeder jeden akzeptiert und keiner diskriminiert wird wegen seiner Hautfarbe oder sonstigem. (Melissa)Mit Gerechtigkeit verbinde ich Gleichberechtigung, aber auch gleiche Verteilung. (Louisa)Gerechtigkeit bedeutet für mich, dass jeder fair und gleich behandelt wird und dass jeder genug Essen und ein Zuhause hat. (Sabrina)Gerechtigkeit bedeutet für mich, dass zum Beispiel jeder gleich viel Essen bekommt oder halt jeder gleich behandelt wird. (Tyler)Gerechtigkeit bedeutet für mich, dass jeder akzeptiert wird und dass jeder die gleichen Rechte hat. (Sophie)Gerechtigkeit bedeutet in meinen Augen, dass man Menschen hilft, die sich selbst nicht schützen können. (Niklas)Gerechtigkeit bedeutet für mich, sich akzeptieren zu können und dass jeder gleichberechtigt wird und ich hab Gerechtigkeit in der Schule erlebt wegen „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage.“ (Nicol)Es war mal ein Junge auf dem Pausenhof, der wurde gemobbt und etwas später kamen dann seine Freunde und haben ihm geholfen. (Christian)Gerechtigkeit hab ich am meisten in meiner Familie erlebt zwischen mir und meinen Geschwistern, wenn unsere Eltern uns gleich behandeln. (Anastasia)Gerechtigkeit bedeutet für mich, dass jeder Mensch jeden so behandeln soll, wie er selber behandelt werden möchte, also gerecht und so wie du es halt selber möchtest, dass du von anderen Leuten behandelt wirst, ja. Gerechtigkeit habe ich erlebt bei Freunden, die mich schlecht oder ungerecht behandelt haben, die dann am Ende ihre Fehler eingesehen haben und sich bei mir entschuldigt haben. (Leonie B.)Gerechtigkeit ist für mich, gleich berechtigt zu werden und nicht vernachlässigt zu werden. Ich werde von meinen Eltern, Lehrern und meinen Freunden und Mitschülern gleich berechtigt. Dafür bin ich sehr dankbar. (Alena)III"Der Tag kommt", sagt der Herr.Der Tag kommt.Das ist eine gute Nachricht. Frieden und Gerechtigkeit sind keine leeren Träume.Der Tag kommt.Ist es nicht das, worum es geht im Advent? Ankunft?"Der Tag kommt", sagt der Herr, »an dem ich aus der Nachkommenschaft Davids einen Mann berufe, der dem Namen Davids wieder Ehre macht.Damals war das Zukunftsmusik. Erlebt haben sie erst einmal das Gegenteil: Das Ende der Könige in Israel. Gefangenschaft. Exil. Fremdherrschaft.Aber das Versprechen haben sie nicht vergessen: Der Tag kommt.Advent. Ankunft.Heute ist das schon Rückblick. Advent ist für uns das Vorwort zu Weihnachten, zum Kommen Gottes in diese Welt. Und wir wissen: Er ist gekommen -- der Tag. Und Gott. Gott ist in Christus Mensch geworden."Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer" weist für uns nicht auf das große Unbekannte, sondern auf Christus selbst.IV"Der Tag kommt", sagt der Herr.Der, der Israel aus Ägypten geführt hat. Der, der in Christus gekommen ist. Der ein neues Reich aufgerichtet hat, das seither am Wachsen ist. Der Gerechtigkeit brachte und bringt. Und Frieden. Der den Tod überwunden hat und selbst das Licht der Welt ist, das im Dunkel scheint. Dieser König trägt den Namen "Der Herr ist unsere Rettung."Wir sind inzwischen wieder in der Krise. Wieder in einer spannenden Zeit, wie Israel damals.Wir schauen zurück auf alles, was er bereits getan hat. Auf den Tag, der bereits gekommen ist. Und auf den Tag, der noch vor uns liegt, der noch kommt.Dazwischen finden wir in diesem wahren König Christus unsere Hoffnung und unser Heil.Ja, der Tag kommt«, sagt der Herr, »an dem sie beim Schwören nicht mehr sagen werden: ›So gewiss der Herr lebt, der das Volk Israel herausgeführt hat aus Ägypten‹, sondern: ›So gewiss der Herr lebt, der die Leute von Israel herausgeführt hat aus dem Land im Norden und aus all den anderen Ländern, in die er sie fortgetrieben hatte, und der sie zurückgebracht hat in ihr Land, damit sie dort wieder wohnen!‹«Oder:So gewiss der Herr lebt, der bei uns war und ist. Der uns durch die Pandemie getragen hat und durch die Klimakrise. Der uns versöhnt hat in einer zerbrochenen Welt.Gott hat uns nicht vergessen. "Der Herr ist unserer Rettung." Er ist unser Friede und unsere Gerechtigkeit. Auch in dieser spannenden Zeit.Amen.
18 minutes | Nov 21, 2021
Hoffnungsrahmen
Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!Geliebte des Herrn in Burladingen,Wenn ich zu Besuche komme, steht sein Bild unübersehbar auf dem Wohnzimmerschrank. Größer als alle anderen Familienbilder von Kindern und Enkeln, die sich darum herum gruppieren. Es ist ein schönes Bild. Entstanden an einem sonnendurchfluteten Herbsttag. Er lächelt entspannt und zufrieden. Man sieht im sein Alter an, aber noch nicht so sehr seine Gebrechlichkeit. Er strahlt Zuversicht aus und Nähe. Der Ehemann, der Vater, wie sie ihn alle über so viele Jahre erlebt haben. So wollen sie ihn gerne in Erinnerung behalten. Ganz bewusst haben sie das Bild deshalb damals für die Beerdigung erwähnt. Da stand es vorne, zwischen all den Blumen und den Kerzen, neben der fast unscheinbar wirkenden Urne.Das Bild gab es schon vorher. Schon als er im Pflegeheim war und sie allein zu Hause. Da hat er sie schon immer ermutigend angelächelt, ihr Geliebter seit so vielen Jahren. Das war damals schon ihr Trost, wenn sie sich einsam fühlte, so allein in dem vertrauten Haus. Daran hat sich nichts geändert. Sein Bild steht heute noch da und lächelt sie an und wenn sie hinschaut, dann ist es, als könne sie ihn reden hören. Manchmal antwortet sie dann auch, redet mit ihm, damit es nicht immer so still ist im Haus. Das tut ihr gut, auch wenn sie weiß, dass es nur ein Bild ist.Geändert hat sich eigentlich nur der Bilderrahmen. Den haben sie ausgetauscht, damals vor der Beerdigung. Der einfache Plastikrahmen aus dem Supermarkt schien nicht ganz passend für den Anlass. Er ist einem etwas edleren Stück gewichen. Schräg über die Ecke des Bildes zieht sich das Band einer schwarzen Schleife. Die ist noch dran von der Trauerfeier und sie passt zum neuen Rahmen.In Freudenstadt habe ich einige Jahre neben einem Fachgeschäft für Bilderrahmen gewohnt. Ursprünglich war das eigentlich ein Kunsthandel, aber mit der Zeit trat das immer mehr in den Hintergrund. Was blieb waren die Rahmen. Keine 08/15-Ware von der Stange. Nein, bei Helmut Friedrich, der auch heute, mit 77 Jahren, noch nicht endgültig die Ladentür zugeschlossen hat, gibt es nur maßgefertigte Einzelstücke. Sein Schaufenster hängt voll mit einer schier unüberschaubaren Vielfalt von Rahmenprofilen. Schmale und breite. Wuchtige Rahmen mit Relief. Feine Rahmenprofile aus Chrom. Helle. Dunkle. Holz. Metall. Kunststoff. In allen Farben und Schattierungen. "Der Rahmen muss zum Bild passen", meint Herr Friedrich, der über die Jahrzehnte eine Passion für diesen oft übersehenen Aspekt entwickelt hat. Wer denkt schon dran, dass der Rahmen ganz entscheidend mit zur Wirkung eines Bildes beiträgt? Diese vielleicht gar mit bestimmt und ein Stück weit verändert?Bei ihr im Wohnzimmer passt der veränderte Rahmen ganz gut zu der neuen Wirkung des Bilds. Die hat sich nämlich auch verändert über die Zeit. Seit dem Abschied damals auf dem Friedhof ist ein neues Element hinzugekommen, dass der neue Rahmen und die schwarze Schleife ganz gut wiederspiegeln. Wenn sie jetzt zu dem Bild ihres Mannes hinüberschaut, verspürt sie oft auch einen Stich tief in der Seele. Dann kommt die Traurigkeit wieder hoch, mit der sie zu leben gelernt hat in den Tagen, Wochen und Monaten nach seinem Tod. Wenn sie sein sonnenbestrahltes Lächeln sieht, erinnert sie sich an die vielen glücklichen Momente, die sie miteinander verbracht haben. Der dicke Kloß in ihrem Hals ist eine Erinnerung daran, dass diese Momente vorbei sind. Nie wiederkehren werden. Der neue Rahmen ist nur das äußere Zeichen dafür: Der Tod selbst ist es, der die Erinnerungen eines ganzen Lebens noch einmal neu einrahmt und zu einem Zeugnis der Vergänglichkeit macht. Es ist, als hätten sich dunkle Wolken vor die Sonne auf dem Bild geschoben.Wir verlassen das Wohnzimmer auf der Alb und reisen nach Jerusalem, Israel, am Ende des 6. Jahrhundert vor Christus. Näher muss ich das gar nicht eingrenzen, denn Jerusalem, die Stadt auf dem Berg, steht schon lange als Zeichen für das ganze Land -- für das ganze Volk. Für sein Wohlergehen und seine Geschichte, für seine Position als erwähltes Gottesvolk, bei dem dort im Tempel Gott selbst wohnt. Für Gottes Gunst und Segen und für seine Treue. Weil diese Treue oft einseitig war und das Volk sich lange nur wenig um Gott und seinen Bund und seine Gebote geschert hat, haben sie gerade erst 70 Jahre im Exil verbracht, weit weg von zu Hause, in Babylon im Zweistromland, Mesopotamien. Entwurzelt, ohne Heimat, in der Ferne. Fotos von Jerusalem gab es keine, aber die Bilder der Heimat trugen sie trotzdem mit sich -- tief eingebrannt in ihren Herzen. Wie das sonnendurchflutete Bild des alten Mannes von der Alb waren es immer Hoffnungsbilder. Jerusalem, die Stadt auf dem Berg, der herrliche Tempel des Herrn an der Spitze, war ihr Sehnsuchtsort. Daran haben sie sich festgehalten in sieben Jahrzehnten in der Ferne. Zumal ja Gott auch geredet hat durch seine Propheten, in dieser endlos scheinenden Zeit. Geredet in reichen, sonnigen Bildern, von der Wiederherstellung, von Trost und Treue und vom kommenden Heil.Als dann das Wunder geschah und die Heimkehr möglich wurde, gab es für viele von ihnen kein Halten mehr. Die Bilder der Heimat vor Augen zogen sie hin, heim, endlich, nach 70 Jahren. Generationen dabei, die diesen Sehnsuchtsort nur aus den Erzählungen der Älteren kannten, aber noch nie selbst gesehen hatten. Und sie selbst, die Älteren, zurück in die Heimat ihrer Kindheit und Jugend.Nur: Die Bilder im Herzen passten gar nicht mehr zur Realität. Die einst strahlende Stadt auf dem Berg war ein Trümmerhaufen. Was einst von Größe und Schönheit und Treue Gottes zeugte, war jetzt nur noch trist und leer. Na ja, nicht ganz leer, denn andere hatten sich dort breit gemacht, wo plötzlich Platz war nach dem Weggang der ursprünglichen Bewohner.Das sonnige Bild im Herzen hat seither einen neuen Rahmen bekommen. Einen schweren, dunklen Rahmen mit einer bitteren, schwarzen Schleife. Es ist, als hätten sich dunkle Wolken vor die Sonne auf dem Bild geschoben.Wo ist denn nun Gott? Wo ist denn seine Treue? Wo ist denn die Wiederherstellung, der neue Anfang, das versprochene Heil. Die dunklen Wolken, die schwarze Schleife, sie legen sich drückend über alles, was einst an Glaube blühte und rauben jeder Hoffnung den Atem, den sie zum Leben und Wachsen braucht.Mitten in dieser trüben Traurigkeit erklingt noch einmal Gottes Stimme. Er spricht wieder, durch einen seiner Propheten, einen Mann, dessen Namen wir nicht einmal kennen. Er ist ein Schüler der großen Propheten vor ihm und seine Worte sind erhalten im dritten von drei Teilen des Jesajabuchs. Theologen nennen ihn, mangels eines anderen Namens, "Tritojesaja". Hört, was er den traurigen Hoffnungslosen zu sagen hat:Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe. Denn siehe, ich erschaffe Jerusalem zur Wonne und sein Volk zur Freude, und ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk. Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens. ... Sie sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen; denn sie sind das Geschlecht der Gesegneten des Herrn, und ihre Nachkommen sind bei ihnen. Und es soll geschehen: Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören. Wolf und Lamm sollen beieinander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, aber die Schlange muss Erde fressen. Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der Herr. (Jesaja 65,17-19.23-25)Da sind sie wieder: Die hellen, fröhlichen Bilder. Neuer Himmel, neue Erde. Freuen und fröhlich sein. Wonne und Freude. Weinen und Klagen sind vorbei. Der Prophet zieht noch einmal einen neuen Rahmen um das, was die Menschen seiner Zeit erleben. Er leugnet ihre Realität nicht. Aber er öffnet den Raum, den Blick, die Perspektive dafür, dass alles das hier nicht das Endgültige ist. Gott ist immer noch treu und er wird handeln. Er selbst wird kommen und alles gut machen.Was der Prophet hier beschreibt sind keine abstrakten Ideen. Keine inhaltsleeren Phrasen, als gutgemeinte Mutmacher. Was er ganz plastisch beschreibt, ist Gott, der noch einmal als Schöpfer tätig wird. Was er schafft, das ist kein leeres Wolkenkuckucksheim in irgendwelchen abgehobenen Sphären, sondern eine plastische Welt, wie wir sie kennen, nur ohne all das, was dem Leben so triste schwarze Schleifen überstülpt. Kein Weinen. Kein Klagen. Keine frustrierend sinnlose Arbeit. Kein sinnlos früher Tod. Antwort auf Gebete. Friede zwischen Feinden. Kein gegenseitiges Übervorteilen. Keine Bosheit. Keine Schaden. Leben, so wie es sein könnte, wenn alle dunklen Wolken dieser Welt sich plötzlich auflösen und die Sonne strahlend durchdringt. Leben, wie an jenem sonnigen Herbsttag, als die Familie zusammen war und alle zufrieden lächelten.Die Worte des Propheten wirken bis heute nach. Die christlichen Schriften des Neuen Testaments haben sie aufgegriffen, darauf aufgebaut. Im letzten Buch der Bibel, der Johannesoffenbarung, hören wir in einer großen Vision von Gott, der alles neu zu machen verspricht.Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! (Offenbarung 21,1-5a)Geliebte des Herrn in Burladingen,Im Streit um Nachrichten und Fakten, um Meinungshoheit, in den letzten Jahren, ist ein Begriff in der Fachwelt ganz stark geworden. "Re-Framing", auf Deutsch "neu einrahmen", beschreibt den Prozess, in dem eine Tatsache oder ein Zitat in einem Zusammenhang so dargestellt wird, dass die ursprüngliche Bedeutung gar nicht mehr wahrgenommen wird, sondern sich ein ganz neues Bild ergibt. Wenn Wahrheit auf diese Weise verdreht wird, ist das ein perfides Instrument, das einen wahren Kern als Werkzeug zur Lüge mißbraucht. So funktionieren viele der Verschwörungserzählungen unserer Tage. Sie zeigen uns, dass nicht nur Bilderrahmen entscheidenden Einfluss auf die Wirkung des eingerahmten Bildes haben. Bei jeder Art von Botschaft hängt das was ankommt, mit von Rahmen ab.Ich glaube, wir merken es oft gar nicht, wie oft bestimmte Dinge den Rahmen unseres Lebens bilden und unsere Wahrnehmung ganz entscheidend prägen. Viele von euch, die heute hier sind, haben im letzten Jahr einen lieben Menschen verloren und der Schmerz sitzt tief. Tage, Wochen, Monate vergehen und was anfänglich stechend scharf war, weicht einer dumpfen Traurigkeit, die sich immer wieder, oft auch unerwartet, an die Oberfläche drängt. Bilder vom Abschied, vom Grab, vom leeren Haus haben sich tief ins Herz eingebrannt. Und neblig kalte Novembertage mit fallenden Blättern tun ein übriges dazu, um uns die Vergänglichkeit allen Lebens vor Augen zu halten. Der Tod, das Sterben, scheint grausam übermächtig und legt seinen dunklen Rahmen mit der schwarzen Schleife über allen Lebens.Geliebte des Herrn,Die Botschaft des Evangeliums ermutigt uns, unser reales Erleben mit einem neuen Rahmen zu versehen. Nie leugnet sie den Tod und seinen Schmerz. Im Gegenteil: Sie zeigt uns ja einen Gott, der selbst in Jesus Christus mit in den Tod geht. Aber die Botschaft des Evangeliums ist eine Botschaft von Ostern, von Leben, in der das Sterben und alles, was wir hier an Vergänglichkeit sehen, nie das endgültige Letzte, sondern immer nur das Vorletzte ist. Die Botschaft des Evangeliums zeigt auf den Gott, der den Tod überwunden hat und der uns in der Taufe versprochen hat, uns mit hineinzunehmen in das neue Leben seines Sohnes Jesus Christus. Die Botschaft des Evangeliums zeigt über das, was wir hier sehen, hinaus auf das, was kommt -- was endgültig kommt -- wenn der Schöpfer des Lebens noch einmal Leben schafft.Geliebte des Herrn,Heute, am letzten Sonntag des Kirchenjahres, geht es um Tod und Sterben. Irgendwie passend, finden wir, dass das am Ende steht. Irgendwie unpassend, begreift man, wenn man heute auf die alten Prophetenworte hört. Und am dunklen letzten Sonntag des Kirchenjahres leuchtet uns heute schon das Licht einer Kerze entgegen vom nächsten Sonntag: Advent. Gott kommt. Gott macht alles Heil.Geliebte des Herrn,Lasst das den Rahmen sein um die traurige Tatsache, dass geliebte Menschen von uns gegangen sind. Lasst diese Gottesworte den Rahmen sein und nicht die scheinbare Endgültigkeit des Todes. Lasst das Licht des kommenden Heils den Rahmen sein und die Sonnenstrahlen auf den Gesichtern unserer Erinnerung wieder neu aufleuchten lassen in dem Morgenglanz der Ewigkeit, der uns in Gottes Versprechen entgegen strahlt.Deshalb zünden wir heute für jeden und jede Verstorbene ein Licht an. Christus ist das Licht der Welt. Wie er durch die Nacht des Todes denen entgegenleuchtet, die uns vorausgegangen sind, so möge er auch unsere Wirklichkeit erleuchten mit dem hellen Rahmen seiner Hoffnung.Amen.
33 minutes | Oct 31, 2021
Immer mehr von dir
Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!Immer mehr von dir, immer mehr. Immer mehr sein wie du, immer mehr. Immer mehr deine Worte verstehen, deine Werke tun, o Herr, immer mehr.Geliebte Gottes in Tailfingen,Heute ist Reformationsfest. Und Tauffest. Zwei Personen wurden heute hier getauft. Ganz unterschiedlich:Finn ist noch ein kleiner Junge. Seine Eltern sind zu uns gekommen und haben darum gebeten, dass er getauft wird. Finn hat dafür nichts getan. Finn ist dafür auch noch viel zu klein. Wünsche und Träume haben viele für sein Leben, aber was daraus wird, liegt noch in einer unbekannten Zukunft. Das macht aber gar nichts. Bei der Taufe gibt Gott Finn ein Versprechen -- völlig ohne dass Finn dazu irgendetwas beitragen möchte. "Fürchte dich nicht", sagt Gott. "Siehe, ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Finn, du bist mein." Und: "Siehe ich bin bei dir alle Tage bis an der Welt Ende." Weil Gott Finn dieses Versprechen gibt, nehmen wir ihn mit der Taufe auf in die weltweite Gemeinschaft derer, die zu Jesus Christus gehören. Kirche, nennt man die.Katharina ist von selbst gekommen. Sie ist viel älter als Finn, schon Anfang 20. Mit dem christlichen Glauben hat sie in der Schule Berührung gehabt, aber nicht lange. Nur ein paar Jahre hat sie den Religionsunterricht besucht, dann war Ethik interessanter. Konfirmiert ist sie nicht. Seit ein paar Jahren arbeitet sie beim Waldheim mit und sie hat sich daraus Gedanken gemacht, was der Glaube eigentlich für sie bedeutet. Ganz bewusst hat sie sich entschlossen, sich am Sonntag taufen zu lassen. Auch Katharina macht Gott ein Versprechen. "Fürchte dich nicht", sagt Gott. "Siehe, ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Katharina, du bist mein." Und: "Siehe ich bin bei dir alle Tage bis an der Welt Ende." Weil Gott Katharina dieses Versprechen gibt, nehmen wir sie mit der Taufe auf in die weltweite Gemeinschaft derer, die zu Jesus Christus gehören. Kirche, nennt man die.Immer mehr von dir, immer mehr. Immer mehr sein wie du, immer mehr. Immer mehr deine Worte verstehen, deine Werke tun, o Herr, immer mehr.Das ist ein Liedtext. Ein Lied, das die Waldheimmitarbeiter gerne singen. Katharina hat es sich für ihre Taufe gewünscht. Und wir werden es am Sonntag singen.Immer mehr von dir, immer mehr. Immer mehr sein wie du, immer mehr. Immer mehr deine Worte verstehen, deine Werke tun, o Herr, immer mehr.Ein Wunsch für die Zukunft. Für den weiteren Weg mit Jesus, für Katharina genauso wie für Finn. Ein Wunsch, dass die Taufe nicht nur ein einmaliges Erlebnis bleibt, von dem man dann auf alten Bildern noch Spuren entdeckt. Dass die Taufe ein Startpunkt ist auf einem Weg, der weitergeht, mit einem wachsenden Glauben, mit einer Begeisterung für Jesus und vielen spannenden, lebensverändernden Begegnungen mit dem, der versprochen hat, in jedem Augenblick dabei zu sein. Bis ans Ende der Welt.Immer mehr von dir.Was heißt eigentlich "mehr"? Wie wächst man denn in diesem Glauben und wie kommt man vorwärts auf diesem Weg mit Jesus?Immer mehr von dir.Finn ist 2 Jahre alt. In 12 Jahren, so hoffe ich, erscheint er wieder einmal in einem besonderen Gottesdienst in der Pauluskirche. "So frage ich euch", wird dann ein Pfarrer oder eine Pfarrerin zu ihm und den anderen Jugendlichen sagen, "Wollt Ihr im Glauben annehmen, was der Herr in der Taufe Euch geschenkt hat? Der versprochen hat, Euer Licht zu sein, Euch zu halten und zu begleiten, auf allen Euren Wegen? Dann sprecht dazu: Ja, Gott helfe uns. Amen" "Ja, Gott helfe mir. Amen", wir Finn dann, hoffe ich, von ganzen Herzen sprechen können. Konfirmation. Bestätigung. Ein eigener, mündiger Glaube, der auch formuliert werden kann als Antwort auf das Versprechen in der Taufe.Katharina wird keine Konfirmation mehr feiern. Für sie ist die Taufe bereits der Moment, wo sie ihrem Glauben Ausdruck verleiht. "Willst du auf den Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft werden?", werde ich sie am Sonntag fragen. Ihre Antwort ist gleichzeitig Glaubensbekenntnis. Weil da schon etwas gewachsen ist, in diesen letzten Jahren im Waldheim und drum herum, was den Wunsch zur Taufe überhaupt erst ausgelöst hat.Immer mehr von dir.Was heißt den jetzt mehr? Ist bei Katharina mehr als bei Finn? Ist das "besser" so?Und was kommt nach der Taufe -- für beide, für Katharina, und für Finn? Was ist da "mehr"?Wenn ich mich hier im Raum umschaue, sind alle hier älter als Katharina und Finn. Wenn man das Leben sozusagen "von hinten her" anschaut, sieht manches ganz anders aus.Immer mehr von dir.Was ist denn dieses "mehr"? Zeigt es sich im Leben? War da Wachstum, Vorwärtskommen, mehr von ihm?Wann hat man denn "mehr"? Und ist "mehr" jemals auch "genug"?Immer mehr von dir.Vor fast 2.000 Jahren hat der Apostel Paulus auf seiner ersten Reise durch Kleinasien eine Reihe von neuen christlichen Gemeinden hinterlassen. Begeistert hat er überall von Jesus Christus erzählt, in dem Gott sich uns zuwendet und uns freundlich anschaut. Viele haben sich von seiner Begeisterung anstecken lassen. Auch ihnen hat Gott in der Taufe ein Versprechen gemacht: "Fürchte dich nicht. Siehe, ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein." Und: "Siehe ich bin bei dir alle Tage bis an der Welt Ende." Auch sie sind Teil der großen, weltweiten Gemeinschaft der Kirche geworden, derer, die zu Jesus Christus gehören.Immer mehr von dir.Paulus war noch gar nicht lange weg, da bekam dieser Wunsch eine konkrete Antwort. "Mehr von Gott" sei dringend nötig, hörte man da. Das Versprechen Gottes in der Taufe sei ja nur der erste Schritt. Nun sei es an der Zeit, selbst tätig zu werden und den eigenen Glauben mit sichtbarem Inhalt zu füllen. Die Anleitung dafür fand man in den Gesetzestexten der hebräischen Bibel. Konkretes Zeichen dafür war -- zumindest für Männer -- die Beschneidung: seit jeher das Zeichen des Bundes Gottes mit dem Volk Israel. Daran ließ sich ja schon immer festmachen, wer dazugehörte und wer nicht.Immer mehr von dir, immer mehr.Die nächsten Schritte lagen doch auf der Hand!Und seither sind zwar 2.000 Jahre vergangen, aber Christenmenschen auf der ganzen Welt sind nicht müde geworden, diesem "mehr" konkrete Formen zu geben, an denen man es fassen, gar messen wollte, ob und wie viel jemand "mehr von Gott" in seinem Leben hatte. Wer sich ein "echter Christ" nennen könne und wer nur eine Karteileiche sei, der im besten Fall noch sonntags die Kirchenbank warmhalte. Beschneidung ist schon lange kein Thema mehr. Dafür finden sich immer wieder neue Kriterien, wie man "mehr von dir" zu leben habe.Immer mehr von dir, immer mehr.Mehr. Mehr.Das kennen wir ja schon, aus ganz anderen Bereichen. Aus der Schule, aus der Arbeitswelt. Überall in unserer Gesellschaft nehmen Menschen einen zunehmenden Leistungsdruck wahr.Mehr. Mehr.Da nehmen dann schon Abiturienten konzentrationsfördernde Drogen und beruhigende Medikamente, um überhaupt mithalten, dem Druck standhalten zu können.Mehr. Mehr.Immer mehr von dir.Ist das das, was Gott will?Immer mehr von dir?Mehr. Mehr.Schon damals kam das relativ bald dem Paulus zu Ohren und gab Anlass, zu einem seiner schärfsten Briefe, die im Neuen Testament erhalten sind. Eindringlich erinnert Paulus die Christ:innen in Kleinasien sechs Kapitel lang an die Grundlagen ihres Glaubens. Auch wir müssen -- nein: dürfen -- das heute wieder neu hören. Aus dem fünten Kapitel des Galaterbriefs:Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist. (Galater 5,1-6)Zur Freiheit hat uns Christus befreit.Wer sich Zwänge eines "mehr" aufbinden lässt, "hat Christus verloren."Aus der Gnade herausgefallen. Gnade, das heißt "unverdiente Zuwendung." Gnade ist genau das, was wir erleben, wenn Gott sein "Ja" schon in der Taufe spricht, ohne dass von unserer Seite dazu eine Leistung nötig wäre.Sola gratia, heißt das bei Martin Luther. Allein aus Gnade sind wir gerettet, gehören wir zu Gott.In Christus gilt der Glaube. Glaube ist das Vertrauen auf das Versprechen, auf das "Ja", das Gott uns bereits gegeben hat.Sola fide, heißt das bei Martin Luther. Allein durch den Glauben sind wir gerettet, gehören wir zu Gott.Sola. Allein. Ausschließlich. Kein mehr in Sicht.Geliebte Gottes in Tailfingen,Immer mehr von dir, immer mehr. Immer mehr sein wie du, immer mehr. Immer mehr deine Worte verstehen, deine Werke tun, o Herr, immer mehr.Ich kann dieses Lied heute überzeugt mitsingen. Weil ich es für wahr halte. Weil ich überzeugt bin, dass es "mehr" gibt, dass "mehr" uns gut tut und weil ich mich selbst nach "mehr" sehne.Immer mehr VON DIR.Von Dir. Von Christus. Von dem, der "mir meine Schulden verliebt."Immer mehr VON DIR.Was heißt das denn? Paulus hat darauf eine Antwort:"Zur Freiheit hat uns Christus befreit!" "Immer mehr von dir", heißt, als mündiger Christ im Glauben, also im Vertrauen auf Gottes feste Zusage, täglich mehr hineinzuwachsen in diese Freiheit, die Gott mir gibt. In eine Freiheit, in der es keine Kriterien gibt, an denen ich mich messen lassen muss, um zu wissen, ob ich schon als "wahrer Christ" gelten darf und ob Gott Gefallen an mir findet. Diese Fragen sind längst beantwortet und ihre Antwort liegt einzig und allein in Jesus Christus, der alles dafür getan hat. Gott selbst hat mir diese Antwort in der Taufe zugesprochen und niemand kann daran etwas ändern. Das heißt "sola gratia" und "sola fide". Zur Freiheit hat uns Christus befreit.Überall, wo diese Freiheit eingeschränkt wird durch ein "mehr", das Menschen einfordern und messen wollen, ist es das Evangelium selbst, das eingeschränkt wird. Überall dort muss Paulus' Warnung neu gelesen werden. Zur Freiheit hat uns Christus befreit.Gottes Freiheit ist die Freiheit nicht zu müssen. Kein neues, frommes Hamsterrad.Gottes Freiheit ist die Freiheit, vertrauen zu dürfen. Glaube. "Sola fide", würde Martin Luther sagen. "Allein durch den Glauben." Und nicht einmal dieser Glaube ist etwas, was ich irgendwie "liefern" muss. Glaube ist ein Geschenk Gottes, der aus dem Hören des Evangeliums wächst, dieses wahren Schatzes der Kirche -- dem Evangelium von der Freiheit. Zur Freiheit hat uns Christus befreit.Davon möchte ich gerne mehr. Jeden Tag.Immer mehr von dir, immer mehr.Geliebte Gottes in Tailfingen, Natürlich findet diese Freiheit auch ihre sichtbaren Ausdrucksweisen. "In Christus Jesus gilt ... der Glaube, der durch die Liebe tätig ist". Wo Menschen im Vertrauen auf Gott in Freiheit leben, da zeigt sich das gerade darin, dass sie die erlebte Liebe Gottes an andere Menschen weitergeben. Das Grundvertrauen des Glaubens, die unverdiente Zuwendung Gottes und das Geschenk der Freiheit, dass er mir gibt, verändern mich. Das sieht man dann -- ganz unterschiedlich, wie die Liebe eben ihren Ausdruck findet. Glaube, Gnade und Freiheit bleiben nicht ohne Folgen. Aber genau das ist es eben: Folgen! Nicht Bedingungen! Nicht Voraus-setzungen. Nichts, was Gott oder Menschen messen, um daran zu bestimmen, was "mehr" nun ist und was nicht. Folgen.Meine Freiheit findet ihren Ausdruck in der Liebe.Da geht es nicht mehr um müssen, um Bringschuld, um Anspruch. Liebe geschieht da, wo der Glaube, den Gott mir schenkt, sich ganz natürlich bemerkbar macht. Das kommt von innen, von Herzen, und nicht von einer To Do-Liste, wo nun halt auch noch "Liebe zeigen" draufsteht.Liebe und Freiheit und Glaubensvertrauen sind ganz eng miteinander verbunden.Meine Freiheit findet ihren Ausdruck in der Liebe.Davon möchte ich gerne mehr. Jeden Tag.Möge Gott sie wachsen lassen, wie er mir den Glauben schenkt.SO will ich singen: Immer mehr von dir, immer mehr. Immer mehr sein wie du, immer mehr. Immer mehr deine Worte verstehen, deine Werke tun, o Herr, immer mehr.Und gleich dazu: Allein deine Gnade genügt.Amen.
18 minutes | Sep 26, 2021
Endstation
Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!Aus dem Buch der Genesis (1. Mose), aus dem 21. Kapitel:Und das Kind wuchs heran und wurde entwöhnt. Und Abraham machte ein großes Mahl am Tage, da Isaak entwöhnt wurde. Und Sara sah den Sohn Hagars, der Ägypterin, den sie Abraham geboren hatte, dass er lachte. Da sprach sie zu Abraham: Vertreibe diese Magd mit ihrem Sohn; denn der Sohn dieser Magd soll nicht erben mit meinem Sohn Isaak. Das Wort missfiel Abraham sehr um seines Sohnes willen. Aber Gott sprach zu ihm: Lass es dir nicht missfallen wegen des Knaben und der Magd. Alles, was Sara dir gesagt hat, dem gehorche; denn nach Isaak soll dein Geschlecht genannt werden. Aber auch den Sohn der Magd will ich zu einem Volk machen, weil er dein Sohn ist. Da stand Abraham früh am Morgen auf und nahm Brot und einen Schlauch mit Wasser und legte es Hagar auf ihre Schulter, dazu den Knaben, und schickte sie fort. Da zog sie hin und irrte in der Wüste umher bei Beerscheba. Als nun das Wasser in dem Schlauch ausgegangen war, warf sie den Knaben unter einen Strauch und ging hin und setzte sich gegenüber von ferne, einen Bogenschuss weit; denn sie sprach: Ich kann nicht ansehen des Knaben Sterben. Und sie setzte sich gegenüber und erhob ihre Stimme und weinte. Da erhörte Gott die Stimme des Knaben. Und der Engel Gottes rief Hagar vom Himmel her und sprach zu ihr: Was ist dir, Hagar? Fürchte dich nicht; denn Gott hat gehört die Stimme des Knaben dort, wo er liegt. Steh auf, nimm den Knaben und führe ihn an deiner Hand; denn ich will ihn zum großen Volk machen. Und Gott tat ihr die Augen auf, dass sie einen Wasserbrunnen sah. Da ging sie hin und füllte den Schlauch mit Wasser und gab dem Knaben zu trinken. Und Gott war mit dem Knaben. Der wuchs heran und wohnte in der Wüste und wurde ein Bogenschütze. Und er wohnte in der Wüste Paran und seine Mutter nahm ihm eine Frau aus Ägyptenland. (Genesis 21, 8-21)Geliebte des Herrn in Bitz/Burladingen,Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. (1. Joh 5, 4c) Sie hätte das wahrscheinlich nicht unterschrieben, dort in der Wüste bei Beerscheba. Unter der stechenden Sonne. Ringsherum nur Staub und Steine und Steine und Staub und Sand und Staub und Steine. Und nichts. Ganz viel nichts. Kein Schatten. Kein Wasser. Kein Schutz. Keine Perspektive. Kein Zuhause. Keine Hoffnung. Keine Kraft mehr. Keine Zukunft. Nur nichts, und davon ganz, ganz viel unter der unbarmherzigen, sengenden Sonne.Die Hoffnung, die sie einmal hatte, liegt im Sterben, einen Bogenschuss weit von der Stelle, an der sie kauert. Hoffnung gibt es nicht für Leute wie sie. Hoffnung ist immer nur für die anderen. Die Gesegneten. Die mit all den Verheißungen. Land, Zukunft, Nachkommen, Segen für die Völker. Die einen haben Gottes Versprechen von Zukunft, reich wie die Zahl der Sandkörner am Meer. Sie hat nur die Sandkörner. Kein Versprechen. Keine Zukunft. Kein Meer. Nur die Sandkörner.Wahrscheinlich hat sie das schon immer gewusst. Sie hat ja nie dazugehört. Sie war immer die Fremde. Hagar, die Ägypterin. Aus dem Ausland. Kein Teil der Familie. Eine Sklavin. Besitz, nur da um zu dienen. Ein Gebrauchsgegenstand, eigentlich. Den Launen ihrer Herrin ausgesetzt. Und wer zwischen den Zeilen lesen kann, der kann sich vorstellen, was das hieß. Wie viel Frust und angestaute Enttäuschung und verletzte Gefühle da waren und sich immer wieder einen Ort, suchten, wo sie sich entladen konnten. Sara hatte ja selbst ihre unglückliche Geschichte: Von dem Ehemann, der sich plötzlich in den Kopf gesetzt hatte, alles zu verlassen -- Familie, Heimat, Geborgenheit -- nur, weil angeblich Gott ihm das gesagt hatte. Unterwegs zu einem verheißenen Land, von dem er nicht einmal selbst wusste, wo es liegen sollte. Gott würde es ihm schon zeigen. Angekommen waren sie nach vielen Gefahren und Strapazen dann erst einmal in Ägypten, wo ihr Mann sie als ihre Schwester ausgab, weil der Herrscher ein Auge auf sie geworfen hatte und Abram um sein Leben fürchtete. Welch ein Schlag ins Gesicht einer Frau! Und dann die ewige Geschichte mit den Nachkommen, zahlreiche wie die Sterne und die Sandkörner, einem Volk, durch das die ganze Welt gesegnet werden sollte. Langjähriger Zwischenstand: Null. Und die biologische Uhr hatte längst aufgehört zu ticken. Nur ein bitteres Lachen hat Sara noch übrig für diese "Verheißung", die doch so offensichtlich nie wahr werden kann.Nur ein bitteres Lachen. Und Hagar. Die ist ja nur Besitz. Was dann geschieht, mag in den Gepflogenheiten der damaligen Kultur nicht unüblich gewesen sein. Einen männlichen Nachkommen zu sichern war wichtiger als alles andere. Aber man darf nicht darüber hinweglesen und übersehen, was hier geschieht: Eine Frau wird zum Sex gezwungen. Ohne Liebe, ohne Ehe, ohne irgendeine Art von Beziehung oder Wertschätzung. Sie ist nur Objekt, nur Werkzeug, nur Mittel zum Zweck. Eine Frau wird zum Sex gezwungen -- wie oft? Bis sie ein Kind empfängt, das sie austragen muss für einen anderen, für eine andere. Sie selbst hat keine Rechte, ein nichts, ein bloßes Hilfsmittel. Furchtbar! Abscheulich! Lasst euch von den ach so verklärten Vätergeschichten nicht darüber hinwegtäuschen, was hier geschieht. Hagar ist ein Opfer.Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. (1. Joh 5, 4c)Was soll man da anderes tun, als bitter zu lachen? Nach ihrem Glauben hat niemand gefragt. Sie ist die, die überwunden wurde, der man alles genommen hat, auch mit Gewalt. Sie ist die, die hier am Ende angekommen ist. In der Wüste, im Sterben. Endstation. Und ihre Hoffnung stirbt einen Bogenschuss entfernt. Sie kann gar nicht hinschauen.Hoffnung. Ja, einen kurzen Moment hatte sie ja einmal Hoffnung. Als der Sohn tatsächlich geboren wurde. Als das Gesicht des alten Patriarchen zu leuchten begann, weil er endlich die Erfüllung der Verheißung greifbar vor sich sah. Ismael. "Gott hat gehört." Plötzlich keimte da der Gedanke, dass es doch eine Zukunft geben könnte, auch für Sie. Dass er diese Zukunft war, Ismael, ihr Sohn. Ein kleines, grünes Hoffnungspflänzchen, nur ein winziges Hälmchen.Und dann wurde Sara schwanger. Was keiner geglaubt hatte. Was biologisch unmöglich schien. Was nur noch für bitteres Lachen sorgte. Der Sohn wurde geboren. Isaak. "Lachen". Der verheißene Sohn, ein fröhliches Lachen jetzt. Ein Jauchzen, Freude, Begeisterung. Glaube. Bei Sara.Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. (1. Joh 5, 4c)Für Hagar war da kein Platz mehr. Und schon gar nicht für das helle Kinderlachen Ismaels. Sie waren plötzlich nur noch Bedrohung, nur noch das fünfte Rad am Wagen, nur noch Erinnerung an die Zeit als der Glaube nicht stark genug war. Sie mussten weg! Und möglichst schnell! Jetzt sind sie hier. Endstation. Sengende Sonne. Unendliche Wüste. Und nichts. Ganz, ganz viel nichts.Geliebte Gottes in Bitz/Burlandingen,Das hätte so eine schöne Triumphpredigt werden können heute: Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. (1. Joh 5, 4c). Ich hätte den Römerbrief aufschlagen können und wunderschöne Worte lesen, vom Glauben den Gott schenkt aus dem Hören des Evangeliums.Wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet. (Römer 10,9)Und wir, die Gesegneten, Erben der Verheißung, säßen glückselig lächelnd hier in der Kirche und freuten uns an dem Reichtum des Guten, mit dem uns Gott aus Gnade durch Christus beschenkt.Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. (1. Joh 5, 4c).Stattdessen: Hitze. Wüste. Nichts. Endstation.Was soll das?Geliebte Gottes in Bitz/Burlandingen,Wir sind gesegnet. So viele von uns. Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. (1. Joh 5, 4c). Es tut gut, daran zu denken, sich daran zu freuen.Wir sind gesegnet, geliebt, gerettet.Und dann gibt es Hagar in der Wüste. Und unsere Welt ist voll von Hagars. Voll von denen, die keine Hoffnung mehr haben. Die alles verloren haben. Die keine Zukunft mehr haben. Nur noch Endstation und ganz, ganz viel nichts.Sie schwitzen in den stickigen Textilfabriken von Bangaladesh. Sie schufften in den Minen des Kongo. Sie bluten als Kindersoldaten in Myanmar und Somalia. Sie waten durch die ungeklärten Abwasser der Slums in Kolkata. Sie stochern in unseren Konsumabfällen auf den riesigen Müllkippen in Afrika. Sie brechen aus aus aussichtsloser Armut und wandern durch die erbarmungslose Sahara, werden unterwegs ausgeraubt, entführt, vergewaltigt, werden in lybischen Lagern gefoltert, in seeuntüchtigen Booten auf dem Mittelmeer ausgesetzt und ertrinken unter den Augen des reichen Europas im Mittelmeer. Unter unseren Augen. Oder sie schaffen es an Land, wo wir sie in menschenunwürdige Lager sperren, hier, auf unserem Kontinent.Die Welt ist voll von Hagars und voll von Hitze, Staub, Steinen, Endstation und ganz viel Nichts.Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. (1. Joh 5, 4c).Das klingt wie Hohn in ihren Ohren!Und, schaut, das soll jetzt keine politische Predigt werden, auch wenn heute Wahltag ist und tatsächlich jeder von uns heute die Chance hat, mal über den eigenen Gartenzaun hinauszuschauen und die Hagars der Welt mit in den Blick zu nehmen, für die es keine Hoffnung gibt, nur Nichts.Im Gegenteil. Die Hagars dieser Welt gibt es ja nicht nur in den Slums und Müllkippen, in den Flüchtlingslagern und Minen und auf pazifischen Inseln, die der Klimawandel im Meer versinken lässt. Die Hagars der Welt gibt es hier in Bitz/Burladingen und man sieht es ihnen oft gar nicht an, dass da nur noch Leere ist, nur noch Steine und Staub und Nichts; dass da keine Zukunft mehr ist, weil sie zerstört wurde, oft grausam und kalt; dass sie angekommen sind an der Endstation und ihre Hoffnung endgültig im Sterben liegt. Vielleicht sitzen manche sogar in diesem Raum, heute Morgen, für die es wie Hohn klingt, wenn wir triumphieren:Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. (1. Joh 5, 4c).Und deshalb muss diese Hagargeschichte gehört werden, auch wenn sie uns aufstößt und reibt und wir uns viel lieber einfach gefreut hätten, dass wir geliebt, gesegnet und gerettet sind. Weil Geschichte sich wiederholt und Hagar heute wieder in der Wüste hockt, an der Endstation, und nur noch bitter weinen kann.Und weil die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt ist an dieser Stelle.Und der Engel Gottes rief Hagar vom Himmel her und sprach zu ihr: Was ist dir, Hagar? Fürchte dich nicht; denn Gott hat gehört die Stimme des Knaben dort, wo er liegt. Steh auf, nimm den Knaben und führe ihn an deiner Hand; denn ich will ihn zum großen Volk machen. Und Gott tat ihr die Augen auf, dass sie einen Wasserbrunnen sah. Da ging sie hin und füllte den Schlauch mit Wasser und gab dem Knaben zu trinken. Und Gott war mit dem Knaben. Gehört. Gott hat gehört.Gesehen. Gott hat gesehen.Und Gott war mit dem Knaben (und seiner Mutter natürlich auch).Sollte Gott nicht ganz woanders sein? Ist Gott nicht bei Abraham und Sara, bei den Gesegneten, bei den Lachenden. Ist Gott nicht dort, wo Verheißung erfüllt wird und Segen fließt, wo Hoffnung blüht und Zukunft leuchtet? Ist Gott nicht dort, wo man begeistert triumphiert: Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. (1. Joh 5, 4c).Ja, da ist Gott sicher auch. Zum Glück. Aber entscheidend ist, dass er hier ist. In der Wüste. Dass er hört. Dass er sieht. Dass er die im Auge behält, für die sich keiner interessiert. Dass Hagar ihm wichtig ist und Ismael etwas zählt in seinen Augen. Dass er Hoffnung gibt und Zukunft, wo es Nichts mehr gibt, aber auch wirklich gar nichts mehr außer ganz, ganz viel Nichts. AN der Endstation.Da ist Gott.Gott ist kein Gott der Triumphierenden, der Sieger, der Starken. Dass er da auch ist, ist ein Glück, ein Trost, aber wie Gottes Herz wirklich schlägt, sieht man genau woanders: in der Wüste. Bei den Schwachen. Bei den Sklaven, bei den Opfern, bei den Hoffnungslosen. Da leuchtet seine Herrlichkeit. Jahwe. Ich bin der ich bin. Ich bin für euch da. Der Gott, der Sklaven aus Ägypten holt. Der Gott, der ein unbedeutendes Volk erwählt. Der Gott, der für die Armen sorgt, für die Witwen und Waisen. Der Gott, der sich selbst klein macht, schwach und arm und Mensch wird, in Jesus Christus. Nicht um hier zu triumphieren. Nein, er geht die niedrigen Wege des menschlichen Lebens. Er wendet sich denen zu, die keine Kraft haben, keine Hoffnung und keinen Fürsprecher. Den Aussätzigen. Den Ausgestoßenen. Den Frauen und Kindern, den Kranken, den stadtbekannten Sündern. "Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken." (Matth. 9,12). Er kennt die Niedrigen und macht sich eins mit den Schwachen, selbst bis zur Endstation. Er stirbt mit den sterbenden Hoffnungen der Hagars dieser Welt am Kreuz.Er schenkt sich uns selbst. Sich, und sein Leben. Und er ist Auferstanden und mit ihm die Hoffnung für die an der Endstation.Gott sieht die Hagars dieser Welt.Gott sieht dich, Hagar. Gott hört dich, Hagar.Gott liebt dich, Hagar.Er weiß, wie es aussieht. Er kennt die sterbenden Hoffnungen und die, die schon gestorben sind. Er weiß um das ganze, große weite Nichts.Was ist mit dir, Hagar? Fürchte dich nicht, denn Gott hat gehört. Steh auf!Wo du das hörst; wo du ihn kommen siehst; wo du das begreifst und dich auf ihn verlässt in deiner Hoffnungslosigkeit -- denn sich auf ihn verlassen, genau dass ist es, "Glaube" -- wo das geschieht und du an seiner Hand aufstehst, da kann es auch bei dir geschehen -- Hagar:Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. (1. Joh 5, 4c).Amen.
21 minutes | Aug 22, 2021
Effata
Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!Liebe Schwestern und Brüder,Aus dem Evangelium nach Markus, aus dem 7. Kapitel kommt unser heutiger Predigttext. Eine der vielen ganz kurzen Erzählungen aus den Jesusgeschichten der Evangelien. Sieben Verse nur. Aber weil es hier um "Evangelium", um die Gute, nein, die beste Nachricht der Welt geht, möchte ich diesen Text heute so aufmerksam wie möglich mit euch anschauen. Deshalb habe ich ihn so mitgebracht, dass ihr ihn nicht nur hören, sondern auch lesen könnt:Und als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, dass er ihm die Hand auflege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und spuckte aus und berührte seine Zunge und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge wurde gelöst, und er redete richtig.Und er gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s ihnen aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hören und die Sprachlosen reden. (Markus 7,31-37)Liebe Schwestern und Brüder in Jesus Christus,Um ein Haar wäre er nicht gekommen. Vielleicht hat er es einfach nicht mitbekommen, dass Jesus da war. Vielleicht waren die vielen Geschichten von Jesus irgendwie an ihm vorübergegangen -- wie so vieles im Leben der Gemeinschaft um ihn herum, zu der er gehörte und dann doch irgendwie wieder nicht. Weil er nicht hörte, blieb ihm vieles verborgen. Weil er sich -- wenn überhaupt -- nur stammelnd verständlich machen konnte (das griechische Wort kann völlige Stummheit oder ein schwer verständliches Reden bedeuten), hatten es sicher schon viele aufgegeben, mit ihm zu reden. Vielleicht wusste er ja auch Bescheid, aber hat sich keine Hoffnungen gemacht, dass Jesus "so einem wie ihm" helfen könnte.Wie dem auch sei: Um ein Haar wäre er nicht gekommen."Sie brachten zu ihm einen, der taub war und stammelte und baten ihn, dass er ihm die Hand auflege."Sie" haben ihn zu Jesus gebracht. Wer "sie" genau sind, wissen wir nicht. Wahrscheinlich stehen sie für die typischen Hörer:innen, die Jesus an allen Orten an sich zog. Was "sie" sich genau von ihm erwarteten, wird uns auch nicht erklärt. Vermutlich haben "sie" auf ein Wunder gehofft. Dass er ihm die Hand auflege. Ein Zeichen des Segens, der Zuwendung, der Kraft Gottes. Und Jesus war ja bekannt dafür, dass Menschen bei ihm Heilung erfuhren."Sie" brachten ihn zu Jesus."Sie" wurden nicht enttäuscht. Jesus macht da willig alles mit. Nach Art der altorientalischen Heiler nimmt er den Mann beiseite, vollführt symbolträchtige Gesten, zeigt seine Hoffnung auf himmlische Hilfe deutlich an und spricht ein Wort, das von Kraft zeugen soll. Hefata!Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge wurde gelöst, und er redete richtig."Sie" erlebten ein Wunder.Sie.Ja, Sie.Moment mal! Hat nicht vor allem er ein Wunder erlebt. Wie mag es wohl gewesen sein, plötzlich hören zu können? Wie mag es sich wohl angefühlt haben, als sich "die Fessel seiner Zunge" löste und er plötzlich klar reden konnte? Sicher hat es sein Leben verändert. Die Schranken, die ihn bei so vielem ausgeschlossen hatten, waren auf einen Schlag gefallen. Teilhabe, Dazugehören, Beziehungen wurden jetzt ganz anders möglich. Ein Unterschied, so denke ich mir, wie Tag und Nacht. Oder vielleicht besser, weil hier ja kein Blinder geheilt wurde, wie Totenstille und herzliches Lachen. Wie betretenes Schweigen und Miteinander singen. Ein Unterschied wie Sprachlosigkeit und Redeschwall, wie einsilbige Antworten und begeistertes Erzählen. Krasser kann man es sich kaum vorstellen.Er hat das erlebt. Sein Leben wurde verändert. Es ist, als habe sich plötzlich eine Tür geöffnet, hinein ins Leben, das ihm bisher verborgen blieb.Hefata."Öffne dich.", sagt Jesus. Und die Tür geht auf, wie seine Ohren und sein Mund.Ein Wunder.Er hat ein Wunder erlebt.Aber das ist gar nicht das, was das Evangelium berichtet. Wer den Text zweimal liest, dem fällt erst richtig auf, dass er da fast nur eine Randfigur ist. Alles, woran er überhaupt beteiligt wird, ist passiv. Er wird gebracht. Andere bitten für ihn. Er wird beiseite genommen, ihm werden Finger in die Ohren gelegt. Seine Zunge wird berührt. Er wird angesprochen: "Hefata. Tu dich auf!" Seine Ohren tun sich auf, seine Zunge wird gelöst und dann, ein einziges Mal, tut er selbst etwas in diesem Text: "Er redete richtig." Aber was er sagt, das können wir uns nur vorstellen. Das Evangelium erzählt nichts davon. Und dieser kurze Teilsatz ist das letzte Mal, dass er überhaupt vorkommt. Hinterher wird er nicht einmal mehr erwähnt. Obwohl er doch eigentlich die Hauptfigur der Geschichte sein sollte."Sie" kommen weiter vor.Sie sollen niemandem davon erzählen -- das ist ein typisches Motiv im Markusevangelium.Sie tun es doch -- das ist genauso typisch. Sie sind so begeistert von dem, was da gerade eben geschehen ist, dass sie es gar nicht für sich behalten können. Es muss einfach raus. "Wes das Herz voll ist, dem geht der Mund über", hat Jesus ja schon selbst bei einer anderen Gelegenheit festgestellt. Ihr Herz ist so voll von Begeisterung, dass es gar nicht anders kann, als überzusprudeln in Freude und Gotteslob.Sie haben nämlich gerade ein Wunder erlebt.Ja, Sie.Und sie tun das, was man tut, wenn man ein Wunder erlebt hat. "Sie wunderten sich über die Maßen."Wunder bringen einen nämlich zum Wundern.Und sie haben gerade eins erlebt.Liebe Schwestern und Brüder,Vielleicht ist das der Punkt, wo wir noch einmal nachschauen müssen, ob wir über "sie" nicht doch noch ein kleines bisschen mehr wissen. Es gibt da so Details, die wir oft überlesen in den Geschichten der Evangelien, weil sie uns auf den ersten Blick belanglos erscheinen. Dabei sind gerade diese kurzen Erzählungen in den Evangelien meistens sehr wohlüberlegt in ihrer Wahl der wenigen Worte und alles, was da steht, ist von Bedeutung. So auch der erste Satz, mit dem diese Geschichte begonnen hat. Wisst ihr überhaupt noch, was da als erstes berichtet wurde?"Und als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte."Das war der erste Satz. Eine Ortsangabe. Das könnte man jetzt alles auf einer Landkarte nachschauen. Aber so wichtig ist das gar nicht -- denken wir. Die Geschichte ist auch ohne diese Ortsangabe verständlich -- meinen wir. Und wir lesen weiter und vergessen diesen ersten Satz eigentlich gleich wieder."Und als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte."Wer aufmerksam liest, der zählt in diesem einen Satz vier separate Ortsangaben. Tyrus. Sidon. Das "galiläische Meer", das ist der See Genetsaret. Und das "Gebiet der zehn Städte." Vier Ortsangaben. Deutlicher kann man es eigentlich kaum mehr machen, dass der Ort eine Rolle spielen könnte.Die "10 Städte", die sogenannte "Dekapolis" war das Gebiet auf der anderen Seite des Sees. Heidnisches Gebiet, wenn es auch ganz nahe an Galiläa liegt. Tyrus und Sidon, wo Jesus herkommt, das ist eigentlich sogar schon Ausland. Jesus kommt von den Heiden und geht zu den Heiden."Sie" sind Menschen, die gar nicht so viel Bezug zum Glauben an den einen Gott haben. "Ihnen" fehlt dafür komplett der Zugang, der Durchblick.Und Sie erleben ein Wunder.Effata.Öffne dich.Es gibt noch einen Satz, den wir in dieser Geschichte leicht überlesen. Das ist der letzte. Weiß den noch jemand?"Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hören und die Sprachlosen reden."Eine gutes Fazit von dem, was hier gerade geschehen ist. Begeisterte Menschen, die hier reden. Das könnten sie gesagt haben, oder? Ich fasse das mal in eigenen Worten zusammen: "Toll macht er das alles! Er heilt die Kranken! Ist doch super!" Oder?Und weil wir das alles ja schon vorher in der Erzählung selbst erfahren haben, geht auch dieser begeisterte Bericht ein wenig unter. Schließlich wird hier ja nichts neues mehr gesagt, oder?Liebe Schwestern und Brüder,"Wer Ohren hat, zu hören, der höre!", würde Jesus sagen. Und Martin Luther würde mit Römer 10 darauf hinweisen, dass aus dem Hören des Evangeliums Glaube wächst. Wir tun also gut daran, nicht so leichtfertig mit den biblischen Texten umzugehen.Was uns dabei nämlich entgeht: Dieser begeisterte Bericht der Menschen, die gerade Zeugen eines Wunders wurden, ist ein biblisches Zitat. Dieser Text stammt aus dem Buch des Propheten Jesaja. Genauer gesagt, aus dem 5. und 6. Vers des 35. Kapitels:"Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch und die Zunge des Stummen wird frohlocken." (Jesaja 35,5)Und dieser Anklang an das Jesajabuch ist keineswegs zufällig. Schon gar nicht an das 35. Kapitel. Hört mal zu, worum es dort geht:Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien.Sie wird blühen und jubeln in aller Lust und Freude. Die Herrlichkeit des Libanon ist ihr gegeben, die Pracht von Karmel und Scharon. Sie sehen die Herrlichkeit des HERRN, die Pracht unsres Gottes.Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!Sagt den verzagten Herzen: "Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! [...]"Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden.Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande.Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen.Und es wird dort eine Bahn sein und ein Weg, der der heilige Weg heißen wird. Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm gehen; auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren.Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen.Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.Bekannte Worte. Reiche Bilder des Propheten, der über das kommende Reich Gottes spricht.Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch und die Zunge des Stummen wird frohlocken.Hier tauchen diese Worte wieder auf. Die Zuhörer, die Zuschauer, die Zeugen des Wunders zitieren sie. Sie sagen damit: "Wir haben das Reich Gottes entdeckt. Was schon die Propheten ahnten, das wurde hier vor unseren Augen Wirklichkeit. Wo Jesus heilt, das sehen wir Gottes Reich."Das wirkliche Wunder ist nämlich an ihnen geschehen. Menschen, die vorher nichts vom Reich Gottes wussten, haben plötzlich in Jesu Handeln das Reden Gottes gehört. Menschen, deren Leben vorher um ganz andere Themen kreisten, reden plötzlich begeistert vom kommenden Gottesreich.Effata.Tu dich auf.Für sie hat sich eine Tür aufgetan ins Leben, ins Leben des Gottesreichs, das mit Jesus angebrochen ist.Das ist das wahre Wunder in dieser Geschichte.Er hat ein Wunder erlebt.Sie ein noch größeres.Und dann sind da noch wir. Wenn Glaube aus dem Hören des Evangeliums kommt, dann sind wir beim Hören dieser Texte immer automatisch ein Teil der Handlung.Er hat ein Wunder erlebt. Ohren öffneten sich. Seine Zunge wurde entfesselt.Sie haben ein Wunder erlebt. Herzen öffneten sich und ihre Münder loben Gott für das Kommen seines Reichs.Und wir?Ganz bewusst habe ich versucht, euch mit der Nase auf die Teile des Texts zu stoßen, die wir oft einfach überhören. Sie haben mir schon in der Vorbereitung als Illustration dafür gedient, dass auch an mir vieles einfach vorbeigeht. Auf welchem Ohr bin ich taub? Was kommt in meinem Reden höchstens stammelnd vor?Wo überhöre ich das Reden Gottes? Wo übersehe ich die Spuren seines Reiches, das mit Christus doch angebrochen ist in dieser Welt? Wo müsste ich viel mehr, viel klarer von ihm reden?Das fängt sicher bei mir ganz persönlich an: Mit dem Hören auf Gottes Wort, aber auch auf das Reden der Menschen um mich her, durch die Gott immer wieder, auch ganz überraschend spricht. Ich müsste oft viel aufmerksamer durch die Welt gehen -- gerade auch durch die Ecken, in denen ich mit Gott und seinem Reich vielleicht gar nicht rechne. Müsste besser hinhören, wo Dinge angesprochen werden, die vielleicht außerhalb meiner üblichen Interessenlage oder der Meinungsblase der ich angehöre, gesagt wird.Dann gilt es sicher auch für uns alle: Denn da gibt es die großen Themen, die bei uns oft verhallen. Ob wir Gott und sein Reden nicht auch darin hören könnten? In den Hilfeschreien aus Afghanistan. Im Stönen der Flüchtenden auf dem Mittelmeer. In den Nachrichten von Bränden in Südeuropa, von Flutkatastrophen. Im stummen Aufschrei der Natur um uns her, wenn das Klima sich verändert. Wie viel entgeht uns da, weil wir längst nicht mehr hinhören oder schon bei der nächsten Nachricht sind?Er hat ein Wunder erlebt.Sie ein noch größeres.Womöglich brauchen wir auch eins. Es könnte uns verändern. Und ganz vieles in unserer Welt gleich mit.Wo wir dafür hingehen müssen, das wissen wir. Der Weg ist ganz kurz, denn er ist ganz nahe.O, dass sein "Effata", sein "Tu dich auf", heute auch in Tailfingen erklingen möge -- mitten hinein in unser Leben.Gib uns Ohren, die hören und Augen die sehen...Leg uns deine Hände auf und rühre unsere Ohren mit deinen Fingern an. Tue unsere Münder auf und löse die Fesseln unserer Zungen.Tu ein Wunder, Herr, an uns hier, wie du es an ihm und ihnen getan hast.Amen.
12 minutes | Aug 19, 2021
Wer bin ich?
Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!Liebe Schwestern und Brüder hier am Feuer,Wenn ich mir eine biblische Figur aussuchen könnte, dann wäre ich gerne... Paulus. Das ist doch eine beeindruckende Gestalt. Apostel der Heiden, weitgereist, Gemeindegründer an allen Orten, Autor von der meisten Bücher im Neuen Testament. Ein Glaubenheld, gegen allen Widerstand, in Verfolgung und im Gefängnis und schließlich -- möglicherweise -- sogar vor dem römischen Kaiser. Ein Mann, der bleibende Spuren im christlichen Glauben hinterlassen hat. Das wär doch was.Oder ich wäre vielleicht gerne David. Ihr wisst schon, der, der nur mit 5 Steinen und seinem Glauben den Riesen Goliat besiegt. Ein Mann nach dem Herzen Gottes. Ein König, wie es ihn nur einmal gab in Israel. Ein Großer unter den Großen. Das wär doch was.Oder Elia. Um den ging es letzte Woche hier bei der Sommerkirche. Bei ihm ist Feuer vom Himmel gefallen als Bestätigung seines Glaubens. Gott steht zu seinem Propheten -- auch mit solchen gewaltigen Zeichen. Das wär doch was.Oder... Mir würden da noch ganz viele einfallen: Mose, mit ausgestrecktem Stab über das Rote Meer. Abraham, der mutig auszieht in das verheißene Land, nur den Glauben bei sich und Gottes Versprechen, reich wie die Sandkörner am Meer und die Sterne am Himmel. Drei Männer im Feuerofen, von denen Johannes Hartmann beim letzten Gottesdienst der Sommerkirche erzählen wird. Und, und und...Die Bibel ist voll von Heldensgeschichten. Von Menschen, zu denen ich aufschaue, von denen ich beeindruckt bin. So jemand wäre ich gerne. Das wär doch was.Aber: Was, liebe Geschwister, wenn ich Petrus bin? Aus dem 22. Kapitel des Lukasevangeliums -- der Text der Sommerkirche von gestern Abend:Sie ergriffen ihn aber und führten ihn ab und brachten ihn in das Haus des Hohenpriesters. Petrus aber folgte von ferne. Da zündeten sie ein Feuer an mitten im Hof und setzten sich zusammen; und Petrus setzte sich mitten unter sie. Da sah ihn eine Magd im Licht sitzen und sah ihn genau an und sprach: Dieser war auch mit ihm. Er aber leugnete und sprach: Frau, ich kenne ihn nicht. Und nach einer kleinen Weile sah ihn ein anderer und sprach: Du bist auch einer von denen. Petrus aber sprach: Mensch, ich bin's nicht. Und nach einer Weile, etwa nach einer Stunde, bekräftigte es ein anderer und sprach: Wahrhaftig, dieser war auch mit ihm; denn er ist auch ein Galiläer. Petrus aber sprach: Mensch, ich weiß nicht, was du sagst. Und alsbald, während er noch redete, krähte der Hahn. Und der Herr wandte sich und sah Petrus an. Und Petrus gedachte an des Herrn Wort, wie er zu ihm gesagt hatte: Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich. (Lukas 22,54-62)Was also, liebe Geschwister, wenn ich Petrus bin? Was, wenn ich wie er bin: Ein Versager, der da am Feuer sitzt und in einem Moment alles über den Haufen wirft, was er geglaubt hat?Der Hahnenschrei muss sich wie ein Bohrer tief in seinem Herzen angefühlt haben.Und dann dieser Blick! Dieser Blick, als Jesus (wo kommt der überhaupt auf einmal her?) ihn anschaut, als wisse er genau, was hier gerade passiert ist.Dieser Blick!Ob er traurig schaute? Oder verärgert? War es ein "Ich hab's dir doch gleich gesagt"-Blick? Oder einfach zutiefst enttäuscht?Freunde aus der katholischen Kirche haben mir beschrieben, dass sie sich so in heutiger Zeit die mittelalterliche Vorstellung vom "Fegefeuer" vorstellen -- nicht als einen konkreten Ort voller feuriger Höllenqualen, wie man es sich damals in den schaurigsten Bildern ausmalte. Keine schier unendliche Straffolter. Sondern einfach einen Blick. Den alles sehenden, alles wissenden, liebevollen, aber zutiefst traurigen Blick Gottes, der auf das Leben seines Menschen schaut. Der weiß, was geschehen ist. Vor dem man nichts verbergen kann. Der selbst die geheimsten Gedanken der dunkelsten Stunden kennt. Ja, genau. Auch das, was dir jetzt gerade eingefallen ist. Dieser Blick Gottes, der das alles sieht und der dich anschaut: voll Liebe, voll Schmerz, voll bitterster Enttäuschung.Fegefeuer.Das braucht keine Worte mehr. Da ist alles gesagt.Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.Liebe Schwestern und Brüder in Jesus Christus,Was, wenn ich Petrus bin? Dieser Mann verfolgt mich schon mein Leben lang. Ich glaube, über keine biblische Figur habe ich schon so oft nachgedacht, so oft gepredigt, wie über Petrus. Ich glaube, bei keiner biblischen Figur finde ich mehr Anklänge, in denen ich mich irgendwo wiedererkenne, wie in dem Jünger mit dem großen Herzen und der noch größeren Klappe; mit den großen Bekenntnissen und dem schwankenden Glauben; mit den vorschnellen Handlungen und den weiten Abstürzen.Was, wenn ich Petrus bin?Was, wenn ich auch so ein Versager bin? Ein Verräter am Glauben, an Christus selbst? Was, wenn mein Glaube mich im Stich lässt, gerade dann, wenn es drauf ankommt?Was, wenn der Jesus, dem ich folge, dem mein Leben gehört, für den ich alles geben würde (denke ich zumindest, jetzt, wo das keine ernste Frage ist), mich so anschaut?Liebevoll. Traurig. Gequält. Enttäuscht.Was dann?Es gibt eine Antwort auf diese Frage.Petrus hat sie gefunden. Das ist auch eine Lagerfeuergeschichte, von einem anderen Tag. Die erzählt Gottfried Engele das in zwei Wochen bei der Sommerkirche.Es gibt eine Antwort auf die Frage, auch für mich. Sie steht im Predigttext für heute, im 2. Kapitel des Epheserbriefs. Eigentlich steht diese Antwort an ganz vielen Stellen im Neuen Testament (und wenn man genau hinschaut, auch in der hebräischen Bibel). Sie ist sogar so wichtig, diese Antwort, dass Martin Luther sie zum "articulus stantis et cadentis ecclesiae" erklärte -- zu dem einen Glaubensartikel, mit dem die Kirche steht oder fällt. Wir kennen sie unter dem Titel "Rechtfertigung der Sünder aus Gnade durch den Glauben." Und in dem Paulustext aus dem 2. Kapitel des Epheserbriefs, der zu der kommenden Woche gehört, klingt sie so:Auch ihr wart tot durch eure Übertretungen und Sünden, .... Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht – aus Gnade seid ihr gerettet –; und er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus, damit er in den kommenden Zeiten erzeige den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Christus Jesus. Denn aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es... (Epheser 2,1.4-8).Das ist es. Das ist die Antwort.Was, wenn ich Petrus wäre?Ich bin nicht Petrus. Ich bin Christoph. Aber das reicht auch. Auch ohne Petrus zu sein ist da nicht genug, um es vor Gott zu irgendeiner Art von Berühmtheit zu bringen. Was ich vorzuweisen habe, reicht einfach nicht aus. Und Gründe für diesen Blick, für diesen wahnsinnig gequält enttäuschten Blick, gibt es auch bei mir genug.Aber. Das ist eigentlich schon die Antwort. Aber.Aber Gott setzt dem allen etwas entgegen. Nicht etwas. Jemanden.Gott setzt dem allen Jesus Christus entgegen.In ihm kommt uns nämlich Gott entgegen. Dem versagenden Petrus. Und mir. Und euch.Er kommt uns entgegen -- nicht weil wir so toll wären, sondern einfach und allein, weil er uns zutiefst liebt.Völlig unverdient. "Gnädig", heißt das in der Bibel."The rest is history", wie man so schön sagt: "Der Rest ist Geschichte." Meine Lebensgeschichte nämlich. Die geht dann so: "Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht – aus Gnade seid ihr gerettet –; und er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus, damit er in den kommenden Zeiten erzeige den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Christus Jesus."Das war's schon. Das ist die Antwort. Das reicht aber auch.Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade. (1. Petr 5, 5) -- der Wochenspruch für die kommende Woche.Wer sich selbst für unüberwindlich hält, der braucht ja gar keine Gnade. Wer immer der große Glaubensheld sein möchte, der verpasst ganz das große Wunder, das hier geschieht. Der Versager -- der, der auf seinem Lebensweg auch mal stolpert und fällt, der mit kaputten Knöcheln und offenen Knien daherhumpelt, der erlebt es, was Gnade wirklich bedeutet.Schau, ich hatte nämlich -- wie Petrus so oft auch -- etwas ganz Entscheidendes nicht begriffen:Ich dachte, wie Gott mich sieht hinge davon ab, wer ich bin.Und was dann, wenn ich Petrus bin? Was, wenn ich ein Versager bin? Ein Verräter? Eine Enttäuschung?Ich dachte, wie Gott mich sieht hinge davon ab, wer ich bin.Aber -- hör genau zu:Wie Gott mich sieht hängt nicht davon ab, wer ich bin.Wer ich bin hängt davon ab, wie Gott mich sieht.Noch einmal zum Mitdenken:Wie Gott mich sieht hängt nicht davon ab, wer ich bin.Wer ich bin hängt davon ab, wie Gott mich sieht.Wer bin ich dann also?Geliebt. Lebendig gemacht. Gerettet. Auferweckt. Eingesetzt im Himmel. Beschenkt mit dem überschwänglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Christus Jesus.Das bin ich. Und jedem, der mir etwas anders erzählen will, halte ich damit dagegen:Gott hat mich, der ich tot war in Sünden, mit Christus lebendig gemacht. Ich bin auch Gnade gerettet.Das ist es, was ich bin.(Petrus übrigens auch).Amen.
6 minutes | Jul 18, 2021
Glaube verleiht Flügel
Liebe Konfis,Von der Feder sind wir auf den Vogel gekommen. Nicht auf irgendeinen -- auf einen der größten und stolzesten Vögel: den Adler. Ich stelle mir das toll vor, wenn man mit so einer Spannweite majestätisch über allem schweben kann. Aus der Vogelperspektive sieht das Leben sicher ganz anders aus. Da steht man über den Dingen. Da sieht man, was auf einen zukommt. Da ist man frei und ungebunden. So, wie man sich Leben eigentlich wünscht. Wie ich es euch wünsche, für eure Zukunft.--Hier unten sieht es leider oft ganz anders aus. Gestern habe ich das gleich zweimal erlebt, wie schnell es gehen kann: Nach der Probe habe ich etwas durch die Kirche getreten. Plötzlich bin ich dabei irgendwie schief aufgetreten. Ein stechender Schmerz im Knie und für kurze Zeit konnte ich das Bein gar nicht mehr belasten. Denn Rest des Tages ging es dann mit zusammengebissenen Zähnen. Und dann nochmal am Abend, vor dem Abendmahlsgottesdienst. Im Altarraum habe ich eine Stufe übersehen. Fast hätte ich im Fallen noch eine ganze Anzahl Gläser vom Altar gerissen. Zum Glück hat mein Kollege ganz schnell reagiert und mich aufgefangen.Ich wünschte, ich könnte sagen, im Leben, "im Großen" gäbe es so etwas nicht. Aber ich bin auch da schon oft genug "gestolpert", um es besser zu wissen. Da kann man ganz schnell (auf gut Schwäbisch "auf die Schnauze fallen"). Ich kenne genug Leute, bei denen das auch bleibende Spuren hinterlassen hat. Die jetzt sozusagen durchs Leben humpeln. Oder die es gar nicht mehr geschafft haben, sich wieder aufzurappeln.--Beim Konfiwochenende haben wir miteinander einen Text des Propheten Jesaja angeschaut, der genau das sagt: "Selbst junge Leute werden kraftlos, die Stärksten erlahmen." Das ist die Realität des Lebens. Auch ihr werdet solche Momente erleben.Zum Glück geht der Text aber weiter: "Aber alle, die auf den Herrn vertrauen, bekommen immer wieder neue Kraft, es wachsen ihnen Flügel wie dem Adler. Sie gehen und werden nicht müde, sie laufen und brechen nicht zusammen."--Liebe Konfis, ihr bekennt heute euren Glauben. Einen Glauben, der in den letzten zwei Jahren gewachsen ist. Ihr habt eigene Texte dazu geschrieben und ich kann euch sagen, wir sind ungeheuer stolz auf euch und das, was dabei herausgekommen ist! Aber Glaube ist ja mehr, als nur ein zustimmender Satz, den man sagt. Glaube ist nichts, was man sich als Urkunde an die Wand hängen kann. Glaube, das ist zuallererst das Vertrauen, auf jemanden, der mich bedingungslos begleitet und hält. Glaube trägt, wie die Flügel den Adler.--Das wünsche ich euch: Einen Glauben, der durchs Leben trägt. Nicht nur auf den beschwingten Höhenflügen. Sondern gerade dann, wenn ihr mit einem Knall auf dem harten Boden der Tatsachen gelandet seid. Selbst, wenn es nichts mehr gibt, woran ihr euch hochziehen könnt, worauf ihr euch stützt, gibt es eines, was immer Bestand hat: Gott hat euch versprochen, bei euch zu sein. Möge das Vertrauen auf ihn euch Kraft geben und Flügel verleihen.--Über die Jahre hat die Marke Red Bull immer wieder Werbung nach demselben Schema herausgebracht: In kleinen handgezeichneten Cartoons sieht man einen Menschen, der irgendeinem Problem begegnet. Schnell öffnet er dann eine Dose Red Bull und trinkt sie leer. Dann wachsen aus seinem Rücken plötzlich Flügel, er kann abheben, aus der Vogelperspektive das Problem lösen und dabei noch lustig rufen: "Red Bull verleiht Flügel."Im wahren Leben gibt es keine magische Red Bull-Dose, die alle Probleme löst. Aber es gibt das Vertrauen auf einen, der hinter mir steht, neben mir geht und und um mich ist. Der mehr Kraft hat als ich. Und auf den ich mich immer verlassen kann.Wenn ihr also einen Satz von eurer Konfirmation im Gedächtnis behaltet für's Leben, dann hoffentlich diesen:"Glaube verleiht Flügel."Amen.
14 minutes | Jun 13, 2021
Gebabbel
Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!Aus dem Brief des Apostels Paulus an die Korinther, aus dem 14. Kapitel:1 Strebt nach der Liebe! Bemüht euch um die Gaben des Geistes, am meisten aber darum, dass ihr prophetisch redet! 2 Denn wer in Zungen redet, der redet nicht zu Menschen, sondern zu Gott; denn niemand versteht ihn: im Geist redet er Geheimnisse. 3 Wer aber prophetisch redet, der redet zu Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung. 4 Wer in Zungen redet, der erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, der erbaut die Gemeinde. 5 Ich möchte, dass ihr alle in Zungen reden könnt; aber noch viel mehr, dass ihr prophetisch redet. Denn wer prophetisch redet, ist größer als der, der in Zungen redet; es sei denn, er legt es auch aus, auf dass die Gemeinde erbaut werde. 6 Nun aber, Brüder und Schwestern, wenn ich zu euch käme und redete in Zungen, was würde ich euch nützen, wenn ich nicht mit euch redete in Worten der Offenbarung oder der Erkenntnis oder der Prophetie oder der Lehre? 7 So verhält es sich auch mit leblosen Instrumenten, es sei eine Flöte oder eine Harfe: Wenn sie nicht unterschiedliche Töne von sich geben, wie kann man erkennen, was auf der Flöte oder auf der Harfe gespielt wird? 8 Und wenn die Posaune einen undeutlichen Ton gibt, wer wird sich zur Schlacht rüsten? 9 So auch ihr: Wenn ihr in Zungen redet und nicht mit deutlichen Worten, wie kann man wissen, was gemeint ist? Ihr werdet in den Wind reden. 10 Es gibt vielerlei Sprachen in der Welt, und nichts ist ohne Sprache. 11 Wenn ich nun die Bedeutung der Sprache nicht kenne, werde ich ein Fremder sein für den, der redet, und der redet, wird für mich ein Fremder sein. 12 So auch ihr: Da ihr euch bemüht um die Gaben des Geistes, so trachtet danach, dass ihr sie im Überfluss habt und so die Gemeinde erbaut. 23 Wenn nun die ganze Gemeinde an einem Ort zusammenkäme und alle redeten in Zungen, es kämen aber Unkundige oder Ungläubige hinein, würden sie nicht sagen, ihr seid von Sinnen? 24 Wenn aber alle prophetisch redeten und es käme ein Ungläubiger oder Unkundiger hinein, der würde von allen überführt und von allen gerichtet; 25 was in seinem Herzen verborgen ist, würde offenbar, und so würde er niederfallen auf sein Angesicht, Gott anbeten und bekennen, dass Gott wahrhaftig unter euch ist. (1. Kor 14,1–12(23–25))Liebe Schwestern und Brüder in Jesus Christus,Wir müssen wohl eine ziemliche Problemgemeinde sein hier in Tailfingen. Anscheinend geht es bei uns ja drunter und drüber. Oder wie erklärt ihr euch die Tatsache, dass wir uns heute mit einem Text beschäftigen, den der Apostel ursprünglich an genau so eine Problemgemeinde schrieb?In der kleinen christlichen Hausgemeinde dort in der multikulturellen Hafenstadt Korinth gab es ja ganz offensichtlich gleich eine ganze Reihe von Problemen, die Paulus zu seinem Brief veranlassten. Da wurde gestritten, da gab es verschiedene Parteien. Da ging man gegeneinander bis vor's Gericht, pflegte unzulässige Beziehungen miteinander und selbst beim Abendmahl -- damals verbunden mit einem gemeinsamen Essen -- stopften sich die einen den Rachen voll, während die anderen zum Teil sogar leer ausgingen. Problemgemeinde.Dabei war ja gar nicht alles ein Problem in Korinth. Im Gegenteil: Der Apostel bescheinigt den Korinthern dankbar ein reichhaltiges, sichtbares Wirken des Heiligen Geistes in ihrer Mitte. Das ist ihnen wohl aber an manchen Stellen auch zu Kopf gestiegen. Die verschiedenen Gaben, die der Heilige Geist ganz unterschiedlich an jeden austeilt, wie Gott es will, waren plötzlich fast eine Art Freifahrtschein für jeden, sich darin so richtig auszuleben. Schließlich kann ja das, was von Gott kommt, nicht falsch sein, oder? So kam es dann auch in den Gottesdiensten zu einer Vielfalt von verschiedenen Beiträgen, die ein sehr breites Spektrum abdeckten. Auf der einen Seite, das sogenannte prophetische Reden. Das hört sich jetzt vielleicht seltsam an, meint aber nichts anderes als das Reden von Gottes Wort in klaren, verständlichen Worten. Schon die Propheten der Hebräischen Bibel waren nichts anderes als Menschen, die Gott als eine Art Sprachrohr gebrauchte. Sie gaben sein Reden weiter. Als dann im Neuen Testament in Jerusalem das Pfingstwunder geschieht, erklärt Petrus gerade das zum Kern dessen, was Gott tut: Ohne Unterscheidung von Alter, Herkunft und Geschlecht schenkt er seinen Heiligen Geist nun ganz verschiedenen Menschen und befähigt sie, von Gott zu reden. Man muss nun also gar nicht mehr erst irgendeine spezielle Rolle haben: Priester oder Schriftgelehrter sein, Theologe oder Pfarrer -- oder eben: Prophet. O-Ton Petrus: "das ist's, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist (Joel 3,1-5): 'Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Alten sollen Träume haben; und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen.'" (Apostelgeschichte 2, 16-18). Gottes Geist befähigt Menschen, mutig sein Wort weiterzusagen und das zeigt sich in Korinth. Und das ist gut so.Auf der anderen Seite des Spektrums: das sogenannte "Reden in Zungen", wobei man gleich dazu sagen muss, dass im Griechischen das Wort für "Zunge" und "Sprache" identisch ist. Das stellt uns ein wenig vor ein Rätsel. Viele verstehen darunter eine Art ekstatisches Gebetsreden, das sich nicht mehr auf der Ebene der verständlichen Sprache bewegt und den Beter auf einem ganz anderen, vielleicht viel tieferen Niveau, anspricht. Vom Geist, der für uns betet, wo uns die Worte fehlen, spricht Paulus an anderen Stellen, ja sogar vom Geist, der geradezu "in uns stöhnt". Was für uns in unserer Tradition jetzt völlig fremd klingt, ist bis heute in anderen Frömmigkeitstraditionen der weltweiten christlichen Kirche alltägliches Leben. Vielleicht auch in Korinth? Andere Ausleger vermuten, dass es lediglich um fremdsprachige Äußerungen im Gottesdienst einer vielsprachigen Gemeinde gehe, die dann eben für viele unverständlich blieben. Ich weiß es nicht.Jedenfalls ist das doch aber der Punkt, wo wir feststellen müssen, dass das Durcheinander der Äußerungen, die hier beschrieben werden, etwas ist, was unserer Gottesdiensttradition und unseren kirchlichen Gepflogenheiten völlig fremd ist. Gebabbel. Und spätestens dann könnten wir doch jetzt die Bibel für heute zuklappen und uns mit der Feststellung begnügen, dass dieser Text den Tailfingern eben einmal nicht viel zu sagen hat.Oder doch?Vielleicht machen wir es uns da doch ein wenig zu einfach. Ich bin mir sicher, dass es ein paar Punkte gibt, die uns da weiterhelfen könnten:Zum ersten ist die Feststellung ganz wichtig, dass Paulus hier über ein ganzes Spektrum sehr unterschiedlichen Glaubensäußerungen redet -- und zwar ohne dabei irgendein davon grundsätzlich als Problem darzustellen. Im Gegenteil. Dieser Text ist ja nur ein Ausschnitt aus einem ganzen Brief, und aus einem Abschnitt, der bereits im Kapitel 12 begonnen hat. Dort singt Paulus geradezu ein Loblied auf die Vielfalt: Gottes Heiliger Geist befähigt und begabt unterschiedliche Menschen auf völlig verschiedene Art und Weise. Und das ist gut so. Jeder davon ist wichtig. So wie ein Körper verschiedene Körperteile mit unterschiedlichen Funktionen hat, braucht die Gemeinde die Vielfalt der unterschiedlichen Begabungen, Betonungen und Frömmigkeitsstile. Sie alle wirkt derselbe Gott durch denselben Heiligen Geist. Und das ist gut so: Wo etwas davon fehlt, da leiden alle darunter. Wer das verstanden hat, dem fällt vielleicht auch auf, dass auch dieses uns so fremde "Zungenreden" von Paulus hier nirgends grundsätzlich in Frage gestellt wird. Hört euch doch Sätze wie diesen noch einmal an: "Denn wer in Zungen redet, der redet nicht zu Menschen, sondern zu Gott; denn niemand versteht in: im Geist redet er Geheimnisse." Paulus geht es auf keinen Fall darum, das eine auf Kosten des anderen auf- oder abzuwerten. Die Frage, die er hier immer wieder stellt, ist eine ganz andere -- nämlich: Welchen Nutzen hat die Gemeinde davon? Werden andere dadurch aufgebaut? Werden Menschen, die das Evangelium noch nicht kennen, davon zu Gott eingeladen oder von Gott abgehalten? Im Grunde steckt die ganze Aussage des Apostels schon im allerersten Vers dieses Texts: "Strebt nach der Liebe!"Wer den Brief im Zusammenhang liest, den sollte das nicht überraschen. Direkt davor steht nämlich das berühmte "Hohe Lied der Liebe" aus 1. Korinther 13, das der Apostel so beginnt:Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. (1. Korinther 13,1-2)Dem berühmten Philosophen Sokrates wird die Regel von den "drei Sieben" zugeschrieben, durch die man alles Reden erst einmal filtern solle, um zu sehen, was man sagen sollte und was nicht. Die drei Siebe sind drei Fragen: Ist es wahr, was du sagen willst? Ist es gut, was du sagen willst? Ist es wichtig und notwendig, was du sagen willst?In gewisser Weise gibt uns Paulus hier ganz ähnliche Siebe für jede Äußerung des Glaubens mit: Zeugt es von der Liebe, was du sagen willst? Baut es andere auf, was du sagen willst? Lädt es Menschen zu Gott ein, was du sagen willst?Ich denke, wir tun gut daran, Paulus ernst zu nehmen, wenn er hier alles Reden auf diese Prüfsteine stellt. Die von ihm erwähnten Äußerungen von prophetischem Reden und dem "Reden in Zungen" sind ja nur so etwas wie die Endpunkte einer breiten Vielfalt, die sich in Gottes Kirche finden. Und auch, wenn bei uns manches davon eher selten oder gar nicht auftaucht, so ist doch auch in unserer Gemeinschaft eine ähnliche Vielfalt vorhanden -- wir müssen uns dessen vielleicht nur wieder bewusst werden. Die Predigt, die der Pfarrer von der Kanzel hält, deckt da nur einen winzigen Ausschnitt ab. Das Spektrum reicht vom hochkomplizierten theologischen Fachvortrag bis zur freundlichen Begrüßung an der Kirchentür. Es schließt das Geplauder auf dem Weg zum Platz oder am Ausgang der Kirche mit ein. Und wenn wir ernst nehmen, dass wir ja alle Kirche sind, dann gehört alles, was wir auch draußen, außerhalb dieses Gebäudes äußern mit dazu. Sogar das, was ungesagt beim anderen ankommt.Zeugt es von der Liebe? Baut es andere auf? Lädt es Menschen zu Gott ein?"Strebt nach der Liebe!", ruft uns Paulus zu.Dieser ganze Sonntag steht unter der Überschrift der Einladung. Im Evangelium leuchtet sie auf: Gott lädt die Menschen in Jesus Christus zu sich ein. Kommt alle her! Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen! Das war seine Botschaft, in Wort und Tat, in Predigt und in Zeichen und Wundern, im Sterben und in der Auferstehung. Kommt her! Ihr seid eingeladen! Gott wendet sich euch freundlich zu.Evangelium."Strebt nach der Liebe!", ruft uns Paulus zu. Baut andere auf. Ladet sie ein. Sprecht Evangelium, lebt Evangelium, seid Evangelium in allem, was ihr sagt und tut.Das ist Herausforderung genug, auch für uns in Tailfingen.Strebt nach der Liebe!Am besten geht das, wenn man sich selbst immer geliebt weiß, selbst immer eingeladen. Vielleicht fängt es damit an, dass wir uns das gegenseitig immer wieder zusprechen und erzählen. Mit all unserer Unterschiedlichkeit, die dann für alle zum Gewinn wird. Befähigt und erfüllt mit Gottes Geist, der uns Zeugnis von seiner Liebe gibt. So dass wir begeistert davon werden, ansteckend begeistert und die Einladung der Liebe Gottes in allem sichtbar wird.Amen.
11 minutes | May 29, 2021
Brunn allen Heils
Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!Aus dem dritten Kapitel des Johannesevangeliums:Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, ein Oberster der Juden. Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden. Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist. (Johannes 1,3-8)ZurückspulenLiebe Schwestern und Brüder in Jesus Christus,Kaum haben die Worte meinen Mund verlassen, da bereue ich sie schon. Der Bruchteil einer Sekunde hat genügt, um zu erkennen, dass es ein Fehler war, den letzten Satz zu sagen. Die Erkenntnis kam genau diesen Bruchteil einer Sekunde zu spät. Der entsetzte Blick auf dem Gesicht meines Gegenübers zeigt mir schon, dass es angekommen ist. Jetzt habe ich es ruiniert.Das kann ganz schnell gehen. Vertrauen aufzubauen dauert, manchmal lange Zeit. Vertrauen zu zerstören geht ganz schnell. Da kann ein Satz reichen. Es gibt vieles im Leben, das man ganz schnell kaputt machen kann.Manches Mal habe ich mir schon insgeheim eine Art Rückspultaste gewünscht. Wenn man doch nur ein Stück zurückspringen könnte und es noch einmal machen. "Hindsight is 20/20", sagt man im Englischen. "Im Rückblick hat man immer die perfekte Sehstärke." Wenn man doch nur die so gewonnene Erfahrung nutzen könnte, um es noch einmal, aber besser zu machen. Noch einmal ansetzen. Und wenn es nur ein paar Sekunden wären. In manchen Fällen aber auch gerne Tage, Wochen, oder Jahre. Entscheidungen noch einmal treffen, aber besser. Grobe Fehler nicht wiederholen. Feinfühliger in Gespräche hineingehen. Rücksichtsvoller in Beziehungen. Mit mehr Weisheit ans Leben herangehen. Ein neuer Anfang. Das wäre doch was.Weisheit für's Leben erhofft auch der sich, der sich da nachts ins Gespräch mit Jesus begibt. Nicht, weil er etwas zu verbergen hätte und bei Nacht halt alle Katzen grau sind. Ganz einfach, weil der späte Abend und die frühen Nachtstunden die normale Zeit sind, die ein Rabbi seiner Zeit mit Studien verbringt. Studien, Lernen, gewinnen an Weisheit -- das ist es auch, was er sich von dieser Konversation mit Jesus erhofft: "Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm." Die Chance, von so einem zu lernen, will er sich nicht entgehen lassen.Aber Lernen ist schwer, wenn gleich das Erste, was man zu hören bekommt, völlig unmöglich erscheint: "Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht avon Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen." Von Neuem geboren werden... Noch einmal ganz von vorne beginnen. Das wäre ja schon die Lösung für manches Problem. Das würde vieles anders machen. Selbst den schlimmsten Zeitgenossen würde ich es zutrauen, dass sie manches besser machen würden, wenn man ihnen die Chance noch einmal gäbe.Aber: Von Neuem geboren werden -- wie soll das gehen? Das ist doch völlig unmöglich! Keiner kann einfach zurückgehen und noch einmal ganz klein werden. Ich kann ja nicht einmal diesen letzten Satz zurückholen, den ich so sehr bereue. Zurück an den Anfang? Alles wieder auf Null. Schön wär's. Aber leider ist klar, dass das keine Option ist.Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?Er klingt ein wenig schockiert, der Nikodemus. So hat er sich das Gespräch mit dem weisen Lehrer wohl nicht vorgestellt. Dass Weisheit nicht immer gleich einfach zu schlucken ist, das muss ihm klar gewesen sein. Aber dass das Gespräch gleich im ersten Moment so ins Lächerliche abgleitet, das hat er dann doch nicht erwartet. Lohnt es sich denn überhaupt, hier weiterzureden? War es ein Fehler, hier her zu kommen? Was kann denn noch sinnvolles kommen nach so einem Anfang?Neu geborenJesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden. Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist."Ja, Nikodemus", sagt Jesus. "Du hast recht." Keiner kann das. Es gibt nichts Menschliches, das das bewirken kann. Es gibt keinen einfachen Trick, keine Lebensweisheit, keine tolle Methode, mit der du alles recht machen kannst und deshalb auch hineinkommst in Gottes Reich. Was es braucht, ist eine ganz andere Kategorie. Unerreichbar, unverfügbar für uns Menschen wie der Wind, den wir zwar wahrnehmen, nicht aber machen und lenken können. Es braucht Gott, der etwas tut. Nur er kann es machen. Eine neue Geburt. Ein neuer Anfang. Nichts menschliches, sondern "aus Wasser und Geist", von Gott gewirkt. Das ist es, was es braucht.Nikodemus, dem gebildeten Theologen, muss hier aufgegangen sein, dass er Jesu Wortspiel nur zur Hälfte verstanden hat. Nicht nur von einer "neuen Geburt" redet Jesus. Der Neuanfang, von dem er spricht -- so lässt es zumindest das Wortspiel des griechischen Urtexts zu -- ist gleichsam einer "von oben." Und spätestens als Jesus von "Wasser und Geist" spricht, entsteht vor dem Bild des gelehrten Rabbi ein Bild, das ihm gut gekannt ist. Neue Gläubige, Übertritte zum jüdischen Glauben, wie es sie auch damals immer wieder gab, wurden in die Glaubensgemeinschaft durch ein rituelles Bad eingeführt. Das Alte wird sprichwörtlich abgewaschen. Ein ganz neuer Lebensabschnitt beginnt, wenn der Gläubige dieses Bad verlässt. Ja, das kann Nikodemus verstehen.Als Jahrzehnte später das Johannesevangelium von diesem Gespräch berichtet, ist die Taufe als markanter Punkt des neuen Anfangs längst allen Lesern ein Begriff. Das sichtbare Zeichen des Wassers -- Symbol der Reinigung, aber auch Grundlage des Lebens -- verbindet sich mit dem unsichtbaren Wirken von Gottes Geist. Ein neuer Anfang. Neues Leben. Gott selbst tut etwas an einem Menschen -- etwas, dass der Mensch nie hätte selbst tun können. Unverfügbar, wie der Wind. Und das ist erst der Anfang. Hier beginnt ein neues Leben. Von hier an weht der dieser Windhauch des Geistes beständig durch ein Leben. Gott ist gegenwärtig: Christus in uns -- durch seinen Geist. Niemand hätte das je irgendwie selbst hervorbringen können.TrinitatisWir feiern heute Trinitatis. Das Fest des dreieinigen Gottes: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Unbegreiflich, größer als alles, was ich begreifen kann.Irgendwie hätte ich mir heute zuerst einen anderen Text gewünscht. Einen, der das irgendwie aufdröselt. Der Vater, Sohn und Heiligen Geist irgendwie greifbar macht in ihrem unterschiedlichen Sein und Wirken und mir einen Gott erklärt, der drei in eins oder eins in drei ist und den ich einfach nicht verstehe. Wie Nikodemus hätte ich das alles gerne etwas griffiger gehabt.Das kann dieser Text nicht leisten. Das will er auch gar nicht. Man könnte jetzt wohl auf die Suche gehen und etwas finden über den Vater, den Schöpfer, der mir überhaupt das Leben gibt. Über den Sohn, durch den ein neuer Anfang möglich wird. Schließlich steht nur wenige Zeilen später der wohl berühmteste Vers der Bibel: "Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben." Man hätte vom Heiligen Geist reden können, der diesen Neuanfang in mir wirkt und durch den Christus in mir lebt an jedem Tag.Aber das macht dieser Text gar nicht mit. Stattdessen führt mich der Text an Trinitatis zurück zu etwas ganz Grundlegendem: zu Gottes Wirken an mir in seiner Gänze, in seiner Fülle. Zu dem, was man mit dem Wort "Heil" bezeichnen könnte. Denn dieser Gott, der mir als Vater, Schöpfer, Allmächtiger, als Sohn, als Mensch-gewordener, Gestorbener, Auferstandener, als Kraft und Windhauch des Geistes, begegnet; dieser Gott, dessen dreieiniger Name bei der Taufe über meinem Leben ausgesprochen wurde; dieser Gott, der durch den Geist in mir lebt und wirkt; dieser Gott begegnet mir in allem mit genau dieser Absicht: zu meinem Heil. Er begegnet mir, um das zu machen, was ich nicht kann. Er begegnet mir und schenkt mir Leben (in jedem Sinn des Wortes), das ich nicht produzieren und machen kann. Er begegnet mir und macht mich neu, macht mich ganz, macht mich Heil.Ich bin Gott dankbar für all die unterschiedlichen Facetten seines Wirkens. Ich bin dem Schöpfer dankbar; dem Christus, der für mich gestorben und auferstanden ist; dem Heiligen Geist, der in mir lebt. Ich brauche das gar nicht auseinanderzusortieren. Ich muss es nicht einmal verstehen können. Ich darf es einfach annehmen, wie Gott es mir gibt. Und dankbar dafür sein. Der dreieinige Gott wird mir weiterhin ein Rätsel bleiben. Seine Größe lässt mich nur staunend stehen. Und noch viel mehr staunen muss ich, wenn sich dieser große Gott mir zuwendet und mir sein Heil schenkt.Brunn allen Heils, dich ehren wir.Dass ist es, was mir am Ende bleibt. Das Staunen. Das Wundern. Und das Loben des Gottes, der mir zum Heil geworden ist.Amen.
12 minutes | May 8, 2021
Durch die Wolken
Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!Liebe von Gott Geliebte hier in Tailfingen,Die Tränen fließen oft ungesehen. Einsam, in der Stille. Es kann wohl gar keiner sehen, wie groß die Not ist. Oder vielleicht schaut auch einfach nur keiner hin.Sie hat ihre Enkel schon so lange nicht mehr gesehen. Klar, sie wohnen weit weg. Nur sehr selten war es ihnen möglich, die lange Fahrt auf sich zu nehmen. Und das Programm der jungen Leute ist doch heute auch so voll. Das sieht sie ja alles ein. Dann kam Corona. Die Heime waren lange zu. Besuche waren sowieso nicht möglich. Und jetzt, wo sie wieder möglich sind, ist das ja alles so umständlich, mit dem Testen und so. Irgendwie haben alle akzeptiert, dass das jetzt eben so ist. Aber wenn sie das Foto auf ihrem Nachtisch sieht -- inwzischen ist es vier Jahre alt -- dann sticht es sie tief ins Herz. Es tut so weh. Wie lange soll das noch gehen? Sie möchte nicht mehr. Sie möchte endlich wieder umarmt werden, lachen, sich an den Enkeln freuen; an der Sonne im Garten draußen und an einem Eisbecher im Café am Markt. Sie möchte endlich wieder leben. Warum? Wie lange noch?Er möchte eigentlich gar nicht mehr leben. Wenn man es genau nimmt, schon seit acht Jahren nicht mehr. Seit damals, als seine geliebte Frau gestorben sind. Hilflos war er da auf einmal. Er konnte sich doch kaum mehr erinnern, jemals ohne sie gelebt zu haben, nach all den Jahrzehnten ihrer Ehe. Nie hätte er gedacht, dass er es einmal sein würde, der noch übrig bleibt. Das wollte er nicht. Und dann war sie nicht mehr da. Irgendwie hat er sich eingerichtet in dem Schmerz, in der Traurigkeit, in der Leere. Bei so vielen Handgriffen, so vielen Kleinigkeiten, kommt die Erinnerung an sie wieder hoch. Dann bleibt ihm fast das Herz stehen. Ach, wenn es doch stehen bleiben würde. Jetzt kam auch noch der Krebs dazu. Unheilbar, haben sie gesagt, nach drei unnötigen, quälenden Chemos. Nur noch kurze Zeit haben sie ihm gegen. Da hat er sich heimlich fast gefreut. Aber das ist jetzt auch schon wieder vier Jahre her. Der Schmerz und die Einsamkeit werden immer unerträglicher. Aber er darf nicht gehen. Dabei möchte er doch so gerne. Warum nicht? Wie lange noch?Sie weiß schon lange nicht mehr, was sie noch anfangen soll, mit den quengelnden Kindern zu Hause, die endlich wieder Normalität wollen. Schule. Freunde. Leben eben, wie es sich gehört als Kind. Stattdessen hocken sie zu Hause. Der hippelige Erstklässler soll sich selbst durch Wochenpläne arbeiten, diszipliniert und konzentriert. Das ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Stattdessen prügelt er sich mit seinem Bruder. Für sie fühlt es sich an, als reibe man Schleifpapier über ihre rohen Nerven. Und jede Nachricht von verlängertem Lockdown, von erneut ausgesetztem Schulunterricht, jeder Elternbrief und jedes Weckerklingeln am Morgen dringt wie ein Bohrer in ihre Schläfen. Sie weiß nicht, wie sie das noch aushalten soll. Und dazu die Sorgen, wie es weitergeht. Bis jetzt hat die Firma irgendwie mitgemacht, sie konnte Stunden reduzieren, Urlaub nehmen -- erst bezahlt, dann unbezahlt -- konnte irgendwie jonglieren mit Mann und Oma und Nachbarin. Aber lange geht das nicht mehr so weiter, das ahnt sie, und es lässt sie nicht schlafen bei Nacht, die Angst, vor dem, was da kommt. Warum? Wie lange noch?Er kann auch nur selten ruhig schlafen. Die Bilder sind unauslöschlich in sein Gedächtnis ausgebrannt. Die Schreie. Die Schüsse. Die Peitschenhiebe. Mitten in der Nacht haben sie ihn aufgeweckt. Er dachte schon, jetzt ist alles aus. Jetzt bringen sie ihn um. Stattdessen haben sie ihn in ein Boot bugsiert, mit so vielen anderen, dass er kaum Platz zum Atem hatte. Die Füße standen im Treibstoff, der einfach ins Boot gegossen wurde, ohne Rücksicht darauf, dass das die Haut der Passagiere verbrannte. Schwimmwesten gab es keine. Dafür gab es meterhohe Welllen mit Gischt obendrauf und einen grauen, bleiernen Himmel. Er hatte doch nie Schwimmen gelernt. Die Überfahrt, die Täler und Berge der Wellen, schien sich endlos hinzuziehen, bis dann irgendwann der Motor stotterte und seinen Geist aufgab, und sie nur noch ziellos dahintrieben, vor und zurück, hoch und runter. An den Rest erinnert er sich nicht mehr. So halb war er zu sich gekommen, als fremde Menschen ihm eine Schwimmweste überstreiften und ihn auf das rettende Schiff hievten. Europa, der sichere Hafen, erreicht nach langen Tagen des Wartens und Verhandelns, ist nicht das Land der Hoffnung, von dem er geträumt hat. Keiner will ihn hier. Keiner versteht ihn. Er fühlt sich alleingelassen und fremd, weit weg von seinen Lieben, an einem Ort, der keine Perspektiven für ihn zu haben scheint. Warum? Wie lange noch?Sie weiß schon gar nicht mehr, wie ihre Freundinnen aussehen. Die WhatsApp-Nachrichten werden immer weniger und immer inhaltsleerer. Es fühlt sich fast so an, als habe es immer nur Lockdown und Fernunterricht gegeben. Sie sehnt sich nach dem Spaß, an den sie sich erinnern kann, nach sonnigen Tagen, fröhlichem Miteinander, Zeit zum Abhängen und auch mal sinnlosem Quatschen, ganz nahe beieinander, als wäre das das natürlichste der Welt. Stattdessen hockt sie hier in ihrem kleinen Zimmer, vor dem alten PC den ihr Onkel vorbeigebracht hat, und hofft, dass das stotternde Internet den Schulvormittag heute durchhält. Dass sie Mathe noch einmal kapieren könnte, den Gedanken hat sie schon längst aufgegeben. Wie das alles einmal werden soll in ihrer Zukunft, daran denkt sie lieber nicht. Warum? Wie lange noch?Das Leid ist ganz unterschiedlich. Die Schmerzen, die Not, sind groß.Allen gemeinsam ist, dass sie alles versucht haben. Alles, was irgendwie helfen könnte.Sogar das Beten. Mit unterschiedlich großen Erwartungen, mit ganz unterschiedlichen Worten und Formen. Aber wer weiß, vielleicht hört ja doch einmal zu.Allen gemeinsam ist auch die Erfahrung, dass das Beten oft scheinbar nicht weiter als bis zur Decke geht. Oder in den grauen Wolken des Himmels hängen bleibt.Das Bild mit den Wolken stammt aus dem Predigttext für heute. Einem seltsamen Text, aus einem der "versteckten Bücher", den sogenannten "Apokryphen", Spätschriften zum Alten Testament, die in der hebräischen Bibel gar nicht vorkommen, in der "Septuaginta"; der in der Antike äußerst verbreiteten griechischen Übersetzung davon aber schon. Geistliche Literatur vergangener Tage. Weisheitsschriften aus dem Alten Orient. Die Reformatoren haben sie nicht auf eine Ebene mit der Heiligen Schrift gestellt, und trotzdem mit ins Deutsche übersetzt, weil sie nützlich für Glauben und Leben seien. Gerade das Buch Sirach, aus dem wir heute gelesen haben, wurde in der lutherschen Übersetzung sogar zu einer Art Bestseller. Es kann sich also durchaus lohnen, einmal darin zu lesen.Ben Sirach, ein Weisheitslehrer in Jerusalem, ungefähr 200 Jahre vor Jesus, gibt darin die gesammelten Schätze seiner Lebensweisheit weiter. Vom guten Leben redet er ganz viel, von Freundschaft und vom Miteinander, von gelingenden Beziehungen und guten Regeln. Und vom Beten.Das lohnt sich, sagt Ben Sirach. Gott ist nämlich einer, der auf der Seite derer steht, die ihn am dringendsten brauchen. Auf der Seite derer, die die ungesehenen Tränen weinen. Die unter dem grauen, wolkenverhangenen Lebenshimmel leben und nicht mehr wissen, wie es noch weitergehen soll. Gott steht auf der Seite der Notleidenden, die keine Hilfe finden und keinen Fürsprecher haben. Er steht denen bei, denen sich alles entgegenstellt. Zu Ben Sirachs Zeiten waren das die Witwen und Waisen. Heute sind es viele andere, mit ganz anderen Schicksalen. Aber mit demselben Gott.Es lohnt sich, zu beten, sagt Ben Sirach, weil Gott nicht auf die Person sieht und auf deren Leistungsfähigkeit oder gesellschaftlichen Status. Es lohnt sich, zu beten, sagt Ben Sirach, weil das Gebet weiter geht als nur bis zu den Wolken. Natürlich wissen wir, dass Gott nicht irgendwo weit weg "oben" über den Wolken wohnt. Aber das Bild ist stark und einprägsam: Gebet dringt durch die Wolken. Gebet kommt an, sagt Ben Sirach. Es lohnt sich zu beten,Es lohnt sich, auf Ben Sirach zu hören, sage ich. Auch wenn uns das vielleicht ganz ungewohnt erscheint und deshalb erstmal schwer fällt. Viele von uns haben nie gelernt, zu klagen. Im Gegenteil: Wir verehren die, die leiden, ohne zu klagen, als wahre Helden. Zu biblischen Zeiten hätte man über uns vielleicht gelacht. Da war die Klage etwas ganz normales. Über ein Drittel der Psalmen sind Klagegebete, die mit starken Worten Gott das menschliche Elend vorhalten und ihn an seine Versprechen erinnern. Wie lange noch, Herr?Es lohnt sich, zu beten, sagt Ben Sirach. Unser Gebet, unser Klagen, dringt durch zu Gott und wird dort gehört. Gehört von dem, der gerecht ist und von großer Güte. Die biblischen Klagegebete enden oft mit einem Bericht, dass sich das Vertrauen gelohnt hat. Vielleicht können auch wir einmal berichten, dass unser Gebet von Gott gehört wurde. Vielleicht müssen wir einfach neu entdecken, dass wir Gott unser Leid klagen dürfen. Und es tun. Am besten gleich heute.Über den Wolken scheint oft die Sonne. Wenn Gebet durch die Wolken dringt, schiebt er vielleicht die düstere Bedeckung weg und das Licht seiner Hoffnung scheint in unser Leben.Es könnte sich lohnen, ihm sein Leid zu klagen.Er hilft dem Armen ohne Ansehen der Person und erhört das Gebet des Unterdrückten. Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft, noch seine Güte von mir wendet.Amen.
12 minutes | May 2, 2021
Ein neues Lied
Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!Liebe Schwestern und Brüder in Jesus Christus,Ganz hoch oben setzt der Artist vorsichtig den ersten Fuß auf das Seil. Tastend sucht er nach der richtigen Position, bevor er mit der langen Balancierstange in seinen Händen den Schritt nach vorne wagt. Gebannt schauen wir von unten zu. Unglaublich dünn sieht das Seil aus der Ferne aus. Schritt für Schritt und zunehmend schneller, geht der Artist hoch droben in die Mitte der Manege, als ob es sich um einen Sonntagmittagspaziergang handele. Für uns ist das Seil kaum zu sehen. Für ihn ist es scheinbar breit wie eine Straße. In der Mitte angekommen bleibt er stehen, dreht und wendet sich und jedesmal sieht es für uns so aus, als müsse er sicher fallen. Für ihn sind das alles noch leichte Übungen. Bis zu dem Moment, wo sein linker Fuß ins Rutschen gerät. Wild schwankt die Balancierstange hin und her. Er taumelt, versucht, das Gleichgewicht wieder zu finden, aber schafft es doch nicht. Ein Aufschrei geht durch's Publikum. Und dann passiert es. Er fällt.In all der Aufregung haben wir gar nicht bemerkt, wie seine Partnerin die Stange auf der anderen Seite hochgeklettert ist. Just in dem Moment, als er sich nicht mehr halten kann, schwingt sie auf dem Trapez am langen Seil wie Tarzan durch die Manege. Genau zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle greift sie im Fallen seine Hand und zieht ihn zu sich auf das Trapez. Uns ist allen fast das Herz stehen geblieben. Ein hörbares Aufatmen geht durch den Raum. Als wir endlich begreifen, dass der Sturz mit zum ausgeklügelten Programm gehört, klatschen wir vor Erleichterung noch lauter als sonst. Die beiden dort oben sind so lange schon wieder dabei, die nächsten atemberaubenden Kunststücke vorzuführen.Mich hat die Aufführung begeistert. Aber genauso spannend fand ich die Reaktionen des Publikums. Den entsetzten Aufschrei hätte kein Dirigent besser synchronisieren können. Es war, als hätten wir alle nur gespannt ein Zeichen gewartet, miteinander erschreckt aufstöhnen zu dürfen. Dabei war da gar nichts geplant. Niemand von uns hatte die Zeit, zu überlegen, was nun die angemessene Reaktion sein könnte. Der Schreckensschrei, das erleichterte Aufatmen, der frenetische Applaus -- sie alle kamen unwillkürlich, von Herzen und waren die ganz natürliche Reaktion für jeden, der das Ganze unvoreingenommen beobachtete.Solche unwillkürlichen Reaktionen gibt es an vielen Stellen. Das "Au!" wenn dir jemand auf den großen Zeh tritt gehört genauso dazu wie das "Stopp!", wenn ein kleines Kind sich von der Hand losreist und auf die Straße zurennt und das "Wow", wenn du gerade etwas Unglaubliches beobachtet hast oder das "Mmm", wenn du in etwas wahnsinnig Leckeres gebissen hast.Das Lob Gottes, wenn wir an seine großen Taten denken, gehört in dieselbe Kategorie -- das scheint zumindest das zu sein, was Jesus sagt, als seine Anhänger ihn beim Einzug in Jerusalem in den Himmel hinauf loben. König, Gottgesandter, Friedefürst, sind die Bezeichnungen, die ihnen in diesem Moment spontan einfallen. Die Freude über Gottes Handeln in Jesus bricht sich Bahn und es wird laut. Unwillkürlich, natürlich, sagt Jesus. Das muss einfach geschehen, dass Gott hier gelobt wird. Und wenn diese hier es nicht täten, dann müsste man erwarten, dass die Steine an ihrer Stelle in das Lob Gottes ausbrechen.Solche spontanen Reaktionen kann man nicht kritisieren, wie es die Pharisäer hier tun. Sie sind keine lang geplanten, wohlüberlegten Äußerungen, sondern spontane Gefühlsregungen, die so stark sind, dass sie sich gar nicht zurückhalten lassen. Das ist es, was passiert, wenn Menschen die großen Taten Gottes sehen.Und begegnet dieser Text heute noch einmal, wenige Wochen nach Palmsonntag, weil das umso mehr gilt, wenn man begreift, was Gott in Jesus Christus tut. Im auferstandenen Herrn, der den Tod überwunden hat und damit unwiderruflich Hoffnung bringt für alle, die noch hier dieses sterbliche Leben leben. Die "österliche Freudenzeit" trägt ihren Namen nicht ohne Grund. Besser wird es nicht mehr: Was Gott in Christus getan hat, muss einfach Begeisterung hervorrufen. Die Namen der Sonntage in dieser Zeit geben Zeugnis davon: Jubilate! Kantate! Rogate! Jubelt! Singt! Betet! Das ist es, was ganz natürlich jedes Mal geschieht, wenn Christen sich neu an die Auferstehung Jesu erinnern.Jubelt! Singt! Betet!Nur stehen wir dieses Jahr an Kantate da wie belämmert und trauen uns kaum, hinter unseren Masken zu singen. Das zaghafte Gebrummel, das wir uns abzuringen trauen, kann schon der nächste Nachbar mit Abstand kaum noch hören. Das ist weit weg von dem lautstarken Lob der Jünger auf dem Weg nach Jerusalem!Müssen 2021, nach so vielen Jahren, doch noch die Steine ran, um für das Lob Gottes zu sorgen?Wie das wohl klingen würde, wenn die Mauern hier um uns her plötzlich anfangen würden, zu singen? Wenn das ganze Kirchengebäude hinter uns plötzlich ins swingen käme? Ob die kleinen Steine Sopran singen und die etwas größeren im Alt? Ob der Kirchturm dann plötzlich den Tenor geben würde und ein dreistimmiges Konzert laut wird, bis dann die ganze Alb mit einem tiefen Bass einstimmt und alles um uns herum bebt und schwingt und jubelt und singt? Das Lob der großen Taten Gottes, der Triumph des Auferstandenen Christus wäre doch sicher so ein gigantisches Musikstück wert, das keiner überhören kann und das nicht nur durch Mark und Bein, sondern durch das ganze Universum dringt! Jubelt! Singt! Betet!Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder. Das Meer brause und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen. Die Ströme sollen frohlocken, und alle Berge seien fröhlich vor dem Herrn!Und wir? Was würden wir wohl tun, wenn vor uns und hinter uns und über uns und unter uns plötzlich das vielstimmige Lob der Steine erklingen würde?Ob wir mit offenem Mund daständen, hinter unseren Masken und gar nicht mehr wüssten, was wir nun sagen oder tun sollen?Ob wir zaghaft mit einstimmen würden, erst noch leise brummelnd und dann immer lauter?Ob wir uns die Masken vom Gesicht reißen würden und losrennen würden, um Harfen zu holen, wie es im Psalm heißt und Trompeten und Posaunen oder einfach jedes andere Musikinstrument, das uns in die Finger kommt und sich vermutlich leichter in Truchtelfingen/Onstmettingen finden lässt als eine Harfe?Ich könnte mir aber auch gut vorstellen, dass wir vielleicht noch viel belämmerter dastehen würden als vorher. Dass wir uns zutiefst schämen würden, wenn die Steine und Mauern und die Türme und Häuser und Hügel und Berge um uns herum das Lobkonzert anstimmen, das eigentlich von uns kommen sollte."Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien."Was machen wir den nun, heute, an Kantate, mitten in der österlichen Freudenzeit, wenn es für mehr als zaghaftes Brummeln hinter Masken nicht reicht?Vielleicht liegt die Lösung darin, den Wochenspruch ganz ernst zu nehmen:Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder.Ein neues Lied, das ist vielleicht genau das, was wir brauchen.Damit meine ich nicht nur eine neue Zusammenstellung unterschiedlicher Töne und Harmonien.Nein, ich meine ein wirklich neues Lied. Eines, das in der unendlichen Vielzahl von bereits existierenden Melodien und Kompositionen so vielleicht noch gar nie erklungen ist.Ein Lied, das vielleicht ohne Harfen gespielt wird, ohne Trompeten und Posauenen oder was ihr sonst so finden würdet in Truchtelfingen/Onstmettingen, und vielleicht in dieser maskentragenden Zeit sogar ohne die Stimmen, die hinter der Maske nur Brummeln dürfen.Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir ganz neue Ausdrucksformen finden für die Freude, die uns vom auferstandenen Herrn Christus her kommt. Formen, die ohne laute Stimmen auskommen und die Freude trotzdem hinaustragen in die Welt.Wie das genau aussieht, das kann bei jedem ganz anders aussehen. Vielleicht fängt es ganz leise mit einem veränderten Blick auf die Dinge an. Vielleicht mit einem Telefonanruf bei jemandem, der schon lange nichts mehr von die gehört hat. Vielleicht mit Zeit füreinander, mit praktischen Gesten, mit Bildern, die mehr sagen, als tausend gesungene Worte. Vielleicht fängt es auch einfach mit unseren Gesichtern an, die zumindest auf dem Teil, den man um die Maske herum sieht, nicht Niedergeschlagenheit und Lockdowndepression widerspiegeln, sondern die Freude und Hoffnung und Zuversicht, die einem nachfolgen, der den Tod überwunden hat.Wie das bei dir aussehen kann, wie dein persönliches neues Lied klingen könnte, das kannst du ja in den nächsten Tagen überlegen und ausprobieren.Und dann juble! Singe! Bete! Mit ganz neuen Liedern.Jubelt! Singt! Betet! So dass alle diese neuen Stimmen an ganz vielen Orten gehört werden und zusammenkommen zu einer neuen, vielstimmigen, wunderbaren Harmonie.Dann werden alle hören, was gehört werden muss in dieser österlichen Freudenzeit:Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe!Amen.
20 minutes | Apr 11, 2021
Frühstück mit Jesus
Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!Liebe von Christus Begnadete in Tailfingen,Es ist, als habe man dem Leben auf einen Schlag den Ton abgeschalten. Wie ein Stummfilm ziehen die Ereignisse an ihm vorbei. Grau und unwirklich. Mit einem Tinnituston, der alles übertönt. Vorbei. Auf einen Schlag ist der Blutdruck im Keller, der Magen will sich ihm umdrehen. Vorbei.Alles. Vorbei.Und er hat es ruiniert.Er hat alles verbockt.Dabei hatte er doch gerade noch mutig in die Welt hinausposaunt, er würde Jesus für immer die Treue halten. Koste es was es wolle. Ja, sein Leben wäre er bereit gewesen, für Jesus zu geben. Und als sie dann kamen, im Garten Getsemane, der Verräter und die Soldaten, da hatte er todesmutig sein Schwert gezogen und sich auf sie gestürzt, um seinen Jesus zu verteidigen. Wie mutig es war, ausgerechnet den unbewaffneten Diener anzugehen und ihm das nicht ganz so lebenswichtige Ohr abzuhacken, das lassen wir mal dahingestellt. Immerhin hatte er etwas gewagt. Das musste doch für etwas zählen!Gebracht hat es natürlich nicht viel. Abgeführt haben sie Jesus trotzdem. Und während die meisten anderen schnellstmöglichst das Weite suchten, war er wenigstens von Weitem gefolgt. Vielleicht hatte er da noch eine Chance gewittert, doch noch der Held zu werden, der er so gerne gewesen wäre. So wagt er sich immer weiter heran. Schließlich sitzt er sogar mit am Feuer, dort im Hof des Hohenpriesters. Ganz nah dran.Die Feuerprobe lässt nicht lange auf sich warten: "Du gehörst doch auch zu diesem Jesus!" Gespannte Blicke, die ihn zu durchbohren scheinen. Finger, die auf ihn zeigen. Ihm wird heiß und kalt zur selben Zeit. Ein flaues Gefühl im Magen. Zeit, allen Mut zusammenzuraffen. Der Held räuspert sich. Er schaut entschlossen drein. "Ich weiß gar nicht, wovon du redest", sagt er trotzig.Dreimal.Und dann kräht der Hahn.Es ist, als habe man dem Leben auf einen Schlag den Ton abgeschalten. Wie ein Stummfilm ziehen die Ereignisse an ihm vorbei. Grau und unwirklich. Mit einem Tinnituston, der alles übertönt. Vorbei. Auf einen Schlag ist der Blutdruck im Keller, der Magen will sich ihm umdrehen. Vorbei.Alles. Vorbei.Und er hat es ruiniert.Er hat alles verbockt.Wie durch einen Schleier muss er das wahrgenommen haben, was folgt -- das Rauschen des eigenen Blutes im Ohr. Jesus vor dem Hohen Rat. Jesus vor Pilatus. Die gröhlende Menge. Das Urteil. Angespuckt, verlacht, ausgezogen und ausgepeitscht. Der blutige Jesus taumelt mit dem schweren Kreuz durch die Hitze Jerusalems. Die Hammerschläge. Das Stöhnen am Kreuz. "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"Tot. In der einsetzenden Abenddämmerung hastig in ein Höhlengrab gelegt. Den schwere Stein davorgewälzt.Aus. Mit einem Schlag ist das Leben vorbei.Nicht nur das des gekreuzigten Messias.Auch das des mutigen Verteidigers des Glaubens.Alles. Vorbei.Und er hat es ruiniert.Er hat alles verbockt.Ein Moment hat alles kaputt gemacht.Der Spiegel, aus dem ihm gerade noch der strahlende Held entgegenlächelte, ist zerbrochen. Am Boden liegen die Scherben seines Selbstbilds und nicht kann sie so zusammenkleben, dass wieder alles wäre wie vorher.Alles. Vorbei.Und er hat es ruiniert.Ich frage mich, wie er die Tage danach erlebt hat. Die gespannte Angst und das Weinen der anderen am Samstag passten sicher gut zu seiner eigenen Stimmung.Ob er mehr um Jesus getrauert hat oder um sein eigenes Heldenleben?Sonntagmorgen. Ostern. Maria Magdalena, die völlig aufgelöst in die Gruppe der Trauernden platzt und aufgeregt von einem gestohlenen Leichnam erzählt. Keiner versteht, was hier passiert. Aber durch den Schleier, der sich über alles gelegt hat, spürt er doch noch irgendwie, dass da etwas passiert sein muss. Ein Wettlauf mit einem der anderen zum leeren Grab. Erklärungen gibt es keine. Aber der andere geht hinein, sieht die abgelegten Leichentücher und er glaubt. Der glaubt! Auf einen Schlag hat sich sein Leben verändert. Er versteht es nur noch nicht.Maria steht immer noch verstört und weinend am Grab.Und er? Unser Ex-Held? Was macht der eigentlich? Er geht mit dem anderen zum Rest der Gruppe zurück. Und das Leben ist immernoch zu Ende. Vorbei.Wieder ist es Maria, die einen Aufruhr verursacht mit ihrer unglaublichen Geschichte über zwei Engel, die ihr erschienen seien und einem Gärtner, der kein Gärtner war. "Ich habe den Herrn gesehen!" Davon ist sie felsenfest überzeugt. Und während sie noch rätseln, steht Jesus plötzlich selbst mitten unter ihnen: "Friede mit euch.""Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen.", berichtet das Johannesevangelium.Die erste Osterfreude: Da wurden die Jünger froh.Alle?Einer von ihnen hat den Moment verpasst. Thomas, der Zwilling. Der Zweifler. Als er zurückkommt, kann er nicht verstehen, warum alle plötzlich so fröhlich sind. Gerade einmal zwei Tage ist es her, dass Jesus gestorben ist. Wie kann man da fröhlich sein?Man kann, wird auch Thomas nur wenig später erfahren. Jesus kommt wieder und nimmt den Zweifler mitsamt seinen Zweifeln an. "Mein Herr und mein Gott!" Auch Thomas glaubt. Auch sein Leben hat sich mit einem Schlag verändert.Osterfreude. Neues Leben.Nur einer nimmt den Jubel immer noch durch einen grauen Schleier wahr.Christus ist auferstanden!Aber sein Leben ist trotzdem ruiniert.Alles. Vorbei.Und er hat es ruiniert.Was macht man, wenn man keine Hoffnung mehr hat? Was macht man, wenn man alles rettungslos ruiniert hat?Es bleibt nur noch der Rückzug auf das Wenige, was noch vom Leben übrig ist.Der Ex-Held ist wieder zum Fischer von Kapernaum geworden."Ich gehe fischen."Und davon erzählt das 21. Kapitel des Johannesevangeliums:Danach offenbarte sich Jesus abermals den Jüngern am See von Tiberias. Er offenbarte sich aber so:Es waren beieinander Simon Petrus und Thomas, der Zwilling genannt wird, und Nathanael aus Kana in Galiläa und die Söhne des Zebedäus und zwei andere seiner Jünger. Spricht Simon Petrus zu ihnen: Ich gehe fischen. Sie sprechen zu ihm: Wir kommen mit dir. Sie gingen hinaus und stiegen in das Boot, und in dieser Nacht fingen sie nichts. Als es aber schon Morgen war, stand Jesus am Ufer, aber die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war. Spricht Jesus zu ihnen: Kinder, habt ihr nichts zu essen? Sie antworteten ihm: Nein. Er aber sprach zu ihnen: Werft das Netz aus zur Rechten des Bootes, so werdet ihr finden. Da warfen sie es aus und konnten's nicht mehr ziehen wegen der Menge der Fische.Da spricht der Jünger, den Jesus lieb hatte, zu Petrus: Es ist der Herr! Als Simon Petrus hörte: "Es ist der Herr", da gürtete er sich das Obergewand um, denn er war nackt, und warf sich in den See. Die andern Jünger aber kamen mit dem Boot, denn sie waren nicht fern vom Land, nur etwa zweihundert Ellen, und zogen das Netz mit den Fischen. Als sie nun an Land stiegen, sahen sie ein Kohlenfeuer am Boden und Fisch darauf und Brot. Spricht Jesus zu ihnen: Bringt von den Fischen, die ihr jetzt gefangen habt! Simon Petrus stieg herauf und zog das Netz an Land, voll großer Fische, hundertdreiundfünfzig. Und obwohl es so viele waren, zerriss doch das Netz nicht.Spricht Jesus zu ihnen: Kommt und haltet das Mahl! Niemand aber unter den Jüngern wagte, ihn zu fragen: Wer bist du? Denn sie wussten: Es ist der Herr. Da kommt Jesus und nimmt das Brot und gibt's ihnen, desgleichen auch den Fisch. Das ist nun das dritte Mal, dass sich Jesus den Jüngern offenbarte, nachdem er von den Toten auferstanden war. (Johannes 21,1-14)Wie gut ich mich doch mit diesem Simon Petrus immer wieder identifizieren kann! Von Jesus gepackt und begeistert. Einer, der bereit ist, alles zu geben. Begabt und berufen. Und einer, der immer wieder über seine eigene riesengroße Klappe stolpert! Höhen und Tiefen. Vom großartigen Christusbekenntnis "Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!", bis zu dem Moment, wo Jesus in anfährt, "Geh weg von mir, Satan!", sind es nur wenige Verse.Ein Held mit einer Achillesferse mitten im Gesicht.Das kann ich gut nachvollziehen.Und dann hat er endgültig alles verbockt: "Ich kenne diesen Jesus nicht!"Aus vorbei.Das Leben scheint mit einem Schlag zu Ende.Nicht nur seines.Er hätte auf seine Freunde hören sollen. Nach den drei Bier nicht mehr alleine nach Hause fahren sollen. Aber er war sich seiner Fahrkünste doch sicher. Cool und lässig wie immer. Und dann war da nur noch das gleißende Licht der entgegenkommenden Scheinwerfer, ein Schlag, und dann nichts. Von den beiden jungen Frauen im anderen Auto haben sie ihm erst hinterher erzählt, als er mit zwei gebrochenen Beinen wieder aufwachte. Eine tot, eine für immer querschnittsgelähmt. Und er ist der Schuldige. Mit einem Schlag ist alles aus. Vorbei. Und er hat's verbockt.Die kleine Verlegenheitslüge, die sie so gut dastehen ließ, ging ihr ganz lässig über die Lippen. Viel gedacht hat sie sich nicht dabei. Erst als die Nachfragen kamen und die Geschichte, die sie spinnen musste, immer komplizierter wurde, bis sie sich schließlich in ihrer eigenen Komposition aus Lügen und Halbwahrheiten verstrickte. Mit einem Schlag war die Fassade weg, die sie so lange aufrecht erhalten hatte. Entsetzt starrten die andern sie an. Und dann zogen sie sich stumm zurück, bis sie ganz alleine war. Mit einem Schlag war alles aus. Vorbei. Und sie hat's verbockt.Manchmal dauert er länger. Nicht immer geht es mit einem Schlag.Manchmal bleibt noch etwas übrig und nicht das ganze Leben ist wegen einer Sache ruiniert.Aber die Geschichten von den verbockten Heldentaten, von den verpatzten Chancen und den ruinierten Lebensentwürfen kennen viele von uns zur Genüge. Nicht nur Simon Petrus.Es ist, als habe man dem Leben auf einen Schlag den Ton abgeschalten.Aus. Vorbei.Und du hast es ruiniert.Es ist, als habe man auf einen Schlag das Leben neu gestartet. Besser, schöner, bunter und intensiver als je zuvor. Am Feuer am Ufer sitzt ein pudelnasser Simon Petrus, der noch nie in seinem Leben glücklicher war. Es ist, als sängen die Vögel zum ersten Mal, mit ganz neuen Liedern. War das Grün der Bäume schon immer so herrlich? Das Feuer prasselt und die gegrillten Fische schmecken besser als alles, was er je gegessen hatte.Mit einem Schlag sind alle seine Sorgen wie weggewischt. Gerade saß er noch trübselig im Boot und der glücklose Fischzug einer arbeitsreichen, vergeudeten Nacht passte so gut zu seiner miesen Stimmung. Dann rief dieser Fremde vom User und sie warfen noch ein letztes Mal ohne Hoffnung ihre Netze aus. Die 153 Fische, die das Netz fast zerreißen ließen, hatten sie noch kaum ins Boot gehievt, da sprang Simon Petrus schon ins Wasser. Für andere war es vielleicht nur ein Glückstreffer gewesen -- für ihn war es ein Wink mit dem längsten Zaunpfahl der Welt. "Es ist der Herr", schrie er nur noch, bevor er sich über die Bordwand warf und wild rudernd zum Ufer schwamm. In seinem Kopfkino ein Film von diesem Tag vor drei Jahren, als sie ebenso glücklos von einem nächtlichen Fischzug zurückkamen und Jesus sie noch einmal zum Fischen schickte. Auch damals waren die Netze fast geborsten und am Ufer stand Simon wie ein begossener Pudel vor Jesus, im Bewusstsein, dass er nichts vorzuweisen hatte, was ihn für diesen gottgesandten Wundertäter akzeptabel machen würden. "Herr, gehe von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch." Und dann hat Jesus ihn zu seinem Jünger gemacht.In blinkenden Neonlettern an den Himmel geschrieben hätte die Botschaft nicht deutlicher sein können für Simon Petrus. Noch einmal die gleiche Szene wie damals. "Ich bin ein sündiger Mensch." Ich hab's verbockt. Ruiniert. Aus. Nach all den Jahren, all der Zeit mit dir, all den Wundern und Zeichen und einzigartigen Erlebnissen. Nach all den Lippenbekenntnissen zu ewiger Treue: Ich habe kläglich versagt.Und Jesus? Der steht da am Ufer und schaut hinüber zu den glücklosen Fischern. Er sieht nicht den Versager. Er sieht nicht die Scherben, den Ruin. Der Blick des Auferstandenen ist voller Barmherzigkeit. Er sieht die Menschen, die er liebt.Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten.Der breitet seine Arme aus und ruft den Versager zu sich.Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten.Der sitzt da am Feuer und lädt seinen Petrus zum Frühstück ein.Kommt, und haltet das Mahl!Der nimmt Brot und Fisch und reicht es weiter und alle werden satt und glücklich.Es ist, als habe auf einen Schlag das Leben neu begonnen.Nein!Es ist, als habe auf einen Schlag ein neues Leben begonnen.Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten.Jesus fragt gar nicht nach dem Vergangenen. Er hält keine langen Reden über verpasste Chancen. Er versucht auch nicht, die Scherben des zerbrochenen Selbstbildspiegels und all die anderen Scherben ruinierter Lebenskunstwerke auch nur ansatzweise wieder zusammenzukitten. Er rettet nicht, was eben noch zu retten ist.Der Auferstandene lädt einfach ein und teilt aus.Fisch und Brot. Eine Tischgemeinschaft, wie damals, an dem letzten Abend mit seinen Jüngern, als alles noch in Ordnung war.Fisch und Brot. Nahrung und Nähe. Eine Einladung, nicht nur an die, die alles perfekt können, sondern auch an die ruinierten Versager.Fisch und Brot.Und Leben. Vor allem Leben.Gerade das hat er nämlich ganz neu zu geben, der Auferstandene.Auch mir. Das hat er uns versprochen. Und er verspricht es neu, auch wenn ich's vielleicht verbockt habe.In ihm beginnt auf einen Schlag verbocktes Leben neu.Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten. Amen.
21 minutes | Feb 21, 2021
Verrat
Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn! Liebe Schwestern und Brüder in Jesus Christus, Die Passionszeit hat begonnen und wir gehen wieder einmal "hinauf nach Jerusalem" auf den Spuren unseres Herrn Jesus Christus. Wir sehen, was er bereit war, aus Liebe für uns auf sich zu nehmen und wir machen uns bereit, uns hinterfragen zu lassen von dem, was wir in diesen Wochen hören. Es ist eine tiefgründige, nachdenkliche Zeit -- oder zumindest kann sie es werden, wenn wir bereit sind, uns darauf einzulassen. Heute sind wir am Beginn dieser Reise. Und trotzdem machen wir gleich zu Anfang einen Sprung ans Ende der Geschichte, nach Jerusalem, und begegnen dort Jesus und seinen Jüngern, die sich zur Feier des Pessachfests zusammengesetzt haben. Wir kennen die Szene als "das letzte Abendmahl", oder vielleicht auch "das erste Abendmahl", weil wir seither immer wieder miteinander das Brot brechen und den Wein teilen, wie es Jesus hier mit seinen Jüngern getan hat. Wir springen mitten hinein in das Gespräch des Abends. Ich lese aus dem 13. Kapitel des Johannesevangeliums: Als Jesus das gesagt hatte, wurde er erregt im Geist und bezeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten. Da sahen sich die Jünger untereinander an, und ihnen wurde bange, von wem er wohl redete. Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische lag an der Brust Jesu, den hatte Jesus lieb. Dem winkte Simon Petrus, dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem er redete. Da lehnte der sich an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist's? Jesus antwortete: Der ist's, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Und er nahm den Bissen, tauchte ihn ein und gab ihn Judas, dem Sohn des Simon Iskariot. Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn. Da sprach Jesus zu ihm: Was du tust, das tue bald! Niemand am Tisch aber wusste, wozu er ihm das sagte. Denn einige meinten, weil Judas den Beutel hatte, spräche Jesus zu ihm: Kaufe, was wir zum Fest nötig haben!, oder dass er den Armen etwas geben sollte. Als er nun den Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus. Und es war Nacht. (Johannes 13,21-30 Liebe Schwestern und Brüder in Jesus Christus, Ausgerechnet Judas! Ausgerechnet mit ihm beginnen wir in diesem Jahr unsere Reise nach Jerusalem. Dabei hätte es doch wahrlich bessere Texte gegeben für diesen Sonntag Invocavit, der das Thema "Versuchung" und "Sünde" in den Mittelpunkt stellt. Nicht von ungefähr begehen wir den Tag hier in Württemberg auch als "Landesbußtag", sozusagen einen kleinen Buß- und Bettag. Die Texte des heutigen Tages enthalten die Erzählung von Hiob, der selbst in größten Schwierigkeiten treu zu Gott blieb. "Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Fluche Gott und stirb!", sagt selbst seine Frau. "Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?", entgegnet Hiob und "versündigt sich nicht". Ein Vorbild, dieser Hiob. Wir hätten von Jesus lesen können, der vom Satan in der Wüste versucht wird und dem alle Reiche der Welt auf einmal angeboten werden. "Weg mit dir, Satan!", sagt er und besteht diesen Test. Ein Vorbild, dieser Jesus. Wir hätten von Paulus lesen können, von seinen Entbehrungen, von Verfolgung, Gefangenschaft und Steinigung. Aber "in allem erweisen wir uns als Diener Gottes", konnte er berichten. Ein Vorbild, dieser Paulus. Oder wir hätten einfach die ermutigende Zusage aus dem Hebräerbrief genießen können: "Lasst uns freimütig hinzutreten zu dem Thron der Gnade, auf dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden und so Hilfe erfahren zur rechten Zeit." Das wäre schön gewesen. Aber uns trifft Judas. Der Verräter. Kein Vorbild. Judas sagt nicht entschlossen, "Weg mit dir, Satan!" Im Gegenteil: Da "fuhr der Satan in ihn", weiß das Johannesevangelium zu berichten. O Judas! Und nachdem er von Jesus das Brot genommen hat, geht er hinaus. "Und es war Nacht.", endet der Bericht. Bezeichnend. Treffend. Nacht. O Judas! Wie konntest du nur so etwas tun? Dreißig Silberstücke -- das war alles, was er dir wert war, dein Jesus? Nur wenig später kommst du mit Soldaten zurück, in die Dunkelheit des Gartens unten am Kidron, und sie schleifen ihn gefesselt weg, um ihm den Prozess zu machen. O Judas! Wie konntest du nur? Warst du denn nicht dabei in den letzten drei Jahren? Hast du denn nicht gesehen, dass dies kein gewöhnlicher Mensch ist? Einer, der mit Vollmacht von Gott redet wie keiner vor ihm? Einer, der den Menschen das Heil und die Zuwendung Gottes auf eine nie gekannte Art und Weise nahe bringt? Einer, der mit Zeichen bestätigt, was seine Worte sagen: Wasser wird zu Wein. Blinde sehen, Lahme gehen. Taube Ohren hören die gute Nachricht vom anbrechenden Reich Gottes. Und der tote Lazarus kommt heraus aus seinem Grab, vier Tage nach seinem Tod, wo er schon stinken müsste. Er lebt wieder. Hast du das denn nicht gesehen, Judas? Hat dich das denn nicht überzeugt? Warst du denn nicht auch im Boot auf dem See Gennesaret, dem Ertrinken nahe, als er vom Schlaf erwachte und dem Sturm gebot und es euch wie Schuppen von den Augen fiel: "Was ist das für ein Mann, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind?" Warst du nicht auch bei denen, die er ausgesandt hat, das Evangelium zu predigen, und die begeistert zurückkamen: "Herr, sogar die Dämonen mussten uns gehorchen, wenn wir uns auf deinen Namen beriefen!" Warst du nicht auch bei denen, die dabeiblieben, als alle sich abwanden. "Wohin sollen wir gehen, Herr? Nur du allein hast Worte des ewigen Lebens!" O Judas! Wie konntest du nur? Da "fuhr der Satan in ihn", schreibt Johannes. War Judas am Ende einfach gar nicht mehr selbst Herr seiner Gedanken und Taten? Das System des Bösen hatte ihn im Griff. So weit hatte er sich darauf eingelassen. Ob es seine politische Überzeugung war, seine Geldgier oder einfach eine persönliche Unfähigkeit, an der richtigen Stelle nein zu sagen -- wir wissen es nicht. Viel wurde über Judas geschrieben und gerätselt -- viel mehr, als die Texte der Evangelien tatsächlich hergeben. Der Satan fuhr in ihn, sagt Johannes. Wie auch immer es dazu gekommen ist: Das System hat ihn in der Mangel und er ist nicht mehr einfach frei, das Gute über das Böse zu wählen. O Judas! "[Wir müssen wissen], wie sehr wir Kinder des Zornes sind und alle unserer Werke, Sinne und Gedanken gar nichts.", sagt Martin Luther 1522 am Tag nach Invokavit in seiner zweiten Invokavitpredigt. Wir. Wir müssen wissen. Wir haben ja bisher immer nur auf Judas geschaut. Der sticht eben hervor in dieser Geschichte, ist der sprichwörtliche Verräter geworden. Aber da sitzen ja noch andere mit am Tisch! Und die trifft die Ansage Jesu genau so tief: "Einer unter euch wird mich verraten." Bange Blicke. Gebannte Stille. Man kann sie denken hören, die anderen. "Meint der mich? Ich hoffe, der meint nicht mich." Offensichtlich würde es sich fast jeder der Anwesenden zutrauen. Petrus wagt die Flucht nach vorne: Wir müssen Jesus fragen! Das muss geklärt werden. Vielleicht will er mit seinem Eifer zeigen, dass er ganz bestimmt nicht der Verräter ist. Ein anderer sucht betont die Nähe Jesu, erinnert sichtbar daran, wie nahe sie sich stehen. Betont lässig lehnt er sich zurück zu Jesus und gibt die Frage weiter: "Herr, wer ist's." Der Rest ist einfach still. Vielleicht traut sich keiner mehr, etwas zu sagen. Könnte ich der Verräter sein? Noch einer sitzt mit an diesem Tisch. Einer, von dem das Johannesevangelium nichts weiß. Ich bin es, der sich mit zu den Jüngern gesetzt hat. Ein stiller Beobachter. Einer, der neutral berichtet, analysiert. Der sich ein Urteil bilden kann. Schließlich kenne ich ja, im Gegensatz zu den Anwesenden, bereits das Ende der Geschichte. Und ich weiß, wer der Verräter ist. Vor allem weiß ich, wer es nicht ist: Ich bin ja der Einzige hier, den Jesus nicht gemeint haben kann. So habe ich mir das zumindest vorgestellt. Neutral, distanziert, beobachtend, abwägend. Im besten Fall noch lernend von den Fehlern und Schwächen derer, die hier sitzen und sich mit der bangen Frage quälen, wen Jesus denn nun meinen könnte. Aber dieser Invokavittext entwickelt ein Eigenleben. Er zieht mich mit hinein in die Geschichte. Er entlässt mich nicht einfach aus seinen Fängen und zwingt mich heraus aus meiner neutralen Beobachterrolle. Er hält mir dieselbe bange Frage vor, die sich die Jünger stellen: Hätte ich der Verräter sein können? "Niemals!", entfährt es mir unwillkürlich. Nie hätte ich mich wie Judas zu solcher Untreue hinreißen lassen. Nie hätte ich meinen Glauben, meine Werte und Prinzipien so verraten! Und Jesus schon gleich zweimal nicht! Die Stille am Tisch ist kaum auszuhalten. Längst sind all die selbstsicheren Schnellantworten verhalt. Immernoch hat Jesus nicht geantwortet. Die Frage steht im Raum, wird immer lauter, bohrender, quälender. Ich? Nein, doch sicher nicht ich? Bitte, Jesus, nicht ich...? Mein sorgsam geplegtes Selbstbild gerät ins Wanken. Ich denke an all die Male, in denen meine Lebensentscheidungen alles andere als konsequent und werteorientiert sind. Im Kleinen, wie im Großen. Ich weiß, dass morgen ein langer Tag ist, aber ich bleibe trotzdem noch lange auf. Ich weiß, dass es ungesund ist und greife trotzdem gerne zum Burger. Ich weiß, dass ich schon genug hatte und esse trotzdem noch gerne ein Stück Schokolade. Ich weiß, dass ich es eigentlich gar nicht brauche und kaufe mir trotzdem ein neues Handy. Ich weiß, dass ich eigentlich meine Predigt schreiben sollte, und checke trotzdem erst noch dreimal meine E-Mails, Facebook, die Nachrichten, die Wettervorhersage und den interessanten Artikel, der da auf dem Weg irgendwo verlinkt ist. Ich weiß, dass es der Umwelt schadet, aber ich nehme trotzdem die angebotene Plastiktüte. Ich weiß, dass ich mich mehr bewegen sollte, aber ich nehme trotzdem das Auto. Ich weiß, dass es besser wäre, mich zu beruhigen und drüber zu schlafen, aber ich schreibe trotzdem den Facebookkommentar, der mir als erstes durch den Kopf schoss. Ich weiß, dass die kleinen Betriebe vor dem Ruin stellen, aber ich wähle trotzdem die schnelle Lieferung mit Amazon Prime, komfortabel bestellt vom Sofa zuhause aus und bis vor die Tür gebracht von einem unterbezahlten Paketboten. Ich weiß, dass es wertvolle Lebenszeit verschwendet, aber ich bleibe trotzdem bei einem Youtube-Video hängen. Ich weiß, dass dafür Menschen ausgebeutet werden, aber ich kaufe trotzdem das billige T-Shirt. Ich weiß, dass er auf Kosten anderer Menschen geht, aber ich erzähle trotzdem diesen herrlich dummen Witz. Ich weiß, dass es Gemüse auch unverpackt gibt, aber ich lege trotzdem die schon gewaschene, in Plastik verschweißte Version in meinen Einkaufswagen. Ich habe noch so viel spannende Bücher zu lesen, aber ich schaue trotzdem lieber Netflix. Ich weiß, dass der Anruf wichtig wäre, aber ich schiebe ihn trotzdem hinaus. Ich weiß, dass der Andere jetzt einen aufmerksamen Zuhörer braucht, aber ich lasse mich trotzdem ablenken. Ich weiß das alles. Und trotzdem. TROTZDEM. Bin ich fremdgesteuert, dass ich nicht das tue, was ich doch eigentlich so viel besser weiß? Manchmal vielleicht schon, gesteuert durch Erwartungen, Rollenbilder, Gruppendruck und gesellschaftliche Zwänge. Zumindest rede ich mir das ein, fange an, mir neu die ersten Grundzüge einer Entschuldigung zu konstruieren. Wahrscheinlich bin ich viel öfters einfach Ich-gesteuert. Sicher aber nicht so werteorientiert, konsequent und treu, wie ich mir das gerne einrede. Es gibt nichts, was mir sagt, dass ich dieser Verräter niemals hätte sein können. Zum ersten müssen wir wissen, wie sehr wir Kinder des Zornes sind und alle unserer Werke, Sinne und Gedanken gar nichts. Dafür müssen wir einen klaren , starken Spruch haben, der solches anzeigt, so merk dir gut den Spruch des Paulus an die Epheser 2,3 -- denn obwohl viele solche in der Bibel sind, will ich euch nicht mit vielen Sprüchen überschütten--: "Wir sind alle Kinder des Zornes." (Martin Luther) O Judas? O Christoph! Es ist halt viel zu einfach, Texte wie die Erzählung vom Sündenfall oder diesen von der Tischgemeinschaft Jesu an historischen Einzelpersonen festzumachen -- Adam und Eva und Judas -- und damit selbst fein raus zu sein. Diese Texte betreffen mich genauso. Sie betreffen uns alle. Sie erzählen unsere Geschichten. Was mache denn jetzt nur? Mit am Tisch sitzt Jesus. Viel gesagt hat er nicht, seit er die Ankündigung vom Scheitern des Einen, der ich sein könnte, in den Raum gestellt hat. Gesagt nicht. Aber getan. Brot gereicht hat er, wie man es tut an diesem Abend. Dem Verräter hat er es direkt in die Hand gegeben. Judas ist nach einem Bissen gegangen. Hinaus, in die Nacht. Und da ist seine Geschichte schon fast zu Ende. Nur am Rande taucht er noch auf, als die Soldaten kommen, um Jesus zu packen. Dann deckt sich Schweigen über sein Leben. Gerüchte von seinem Suizid, der Selbsttötung eines verzweifelten Schuldigen, geben die neutestamentlichen Texte noch weiter. Das ist alles. Und jetzt? Das kann doch nicht das Ende sein! Alles in mir wehrt sich gegen diesen Gedanken und gegen das, was das für mich bedeutet, der ich auch der Verräter hätte sein können. Vielleicht müssen wir die Geschichte des Judas noch einmal neu zu Ende denken. Von Christus her, wie wir die Bibel zu lesen gelernt haben. Von der "Mitte der Schrift" her, dem Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders. Von dem her, der dem Verräter das Brot reicht und den Kelch mit dem Wein. Und dann sind wir plötzlich ganz nahe bei dem, was wir selbst hier immer wieder miteinander feiern, wenn Christus uns an seinen Tisch einlädt. Uns, auch mich, der ich hätte der Verräter sein können. In Vézelay im französischen Burgund steht die ehrwürdige Abteikirche Ste Marie-Madeleine aus dem 12. Jahrhundert. Ihre Türen, Wände und Säulen sind mit gotischen Meisterwerken der Steinhauerkunst übersäht. Hoch oben auf einer Säule findet man auch den Judas wieder. Ein unbekannter Steinmetz aus dem Mittelalter hat hier den Menschen vor Augen gemalt, was mit denen passiert, die Gott nicht die Treue halten. Drastisch sieht man das Ende des Verräters, der sich selbst erhängt hat. An der anderen Ecke der Säule taucht Judas noch einmal auf. Nach seinem Tod. Eine unbekannte Figur hat ihn aufgeladen. Beinahe zärtlich, so wie ein Hirte seine Schafe trägt, hat er den Leichnam des Verräters auf seiner Schulter. Lange blieb dieses Bild unbeachtet, bis im Jahr 2017 der Jesuitenpater Peter Wrembek ein Buch darüber schrieb: "Judas, der Freund", ist der Titel. Für ihn ist Jesus dieser unbekannte Träger. Wie ein Hirte sein verlorenes Schaf zurückbringt, trägt er Judas nicht in die Hölle, sondern nach Hause, dorthin "wo kein Leid und keine Tränen mehr sind. Wo Wandlung geschieht. Wo alles neu wird. Wo Gott selbst alles in allem ist." Der Jesus, der auch dem Verräter das Brot reicht, hat sicher auch für mich noch Gnade übrig! Noch einmal Martin Luther, vom Montag nach Invocavit 1522: Zum ersten müssen wir wissen, wie sehr wir Kinder des Zornes sind und alle unserer Werke, Sinne und Gedanken gar nichts. Dafür müssen wir einen klaren , starken Spruch haben, der solches anzeigt, so merk dir gut den Spruch des Paulus an die Epheser 2,3 -- denn obwohl viele solche in der Bibel sind, will ich euch nicht mit vielen Sprüchen überschütten--: "Wir sind alle Kinder des Zornes." … Zum zweiten müssen wir wissen, dass uns Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat, damit wir an ihn glauben; und wer ihm vertrauen wird, soll von Sünde frei sein und ein Kind Gottes. Wie Johannes in seinem ersten Kapitel sagt: "Er hat ihnen Macht gegeben, Kinder Gottes zu werden, allen denen, die an seinen Namen glauben." (1,12) Hier sollten wir alle in der Bibel recht geschickt sein und mit vielen Sprüchen gerüstet, um sie dem Teufel vorzuhalten. Amen.
18 minutes | Jan 24, 2021
Was will denn die da?
Gnade mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn! Der Predigttext für heute kommt aus dem ersten Testament, aus dem ersten Kapitel des Rutbuchs. Seit wenigen Tagen kann man ihn in einer neuen Bibelübersetzung lesen: In der Basisbibel, mit leichtem, gut verständlichem Text für heutige Ohren. Nach vielen Jahren Arbeit gibt es nun die Gesamtausgabe. Die enthält auch die Texte der hebräischen Bibel. Deshalb lese ich den Text heute in dieser Version: Es war zu der Zeit, als Richter in Israel regierten. Wieder einmal herrschte Hunger im Land. Da verließ ein Mann die Stadt Betlehem in Juda. Er wollte mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen eine Zeit lang im Land Moab leben. Der Mann hieß Elimelech und seine Frau hieß Noomi. Seine beiden Söhne hießen Machlon und Kiljon. Sie gehörten zur Großfamilie der Efratiter, die aus Betlehem im Land Juda kam. Sie gingen nach Moab und ließen sich dort nieder. Da starb Noomis Mann Elimelech, und sie blieb mit ihren zwei Söhnen zurück. Die beiden heirateten Moabiterinnen. Eine hieß Orpa und die andere Rut. Ungefähr zehn Jahre lang wohnten sie in Moab. Dann starben auch die beiden Söhne Machlon und Kiljon. Noomi blieb allein zurück, ohne Söhne und Mann. Noomi machte sich auf und zog aus Moab weg, zusammen mit ihren Schwiegertöchtern. Sie hatte dort nämlich erfahren, dass der Herr sich um sein Volk kümmerte und ihm Brot gab. So verließ sie den Ort, an dem sie gelebt hatte. Die beiden Schwiegertöchter begleiteten sie auf dem Weg zurück ins Land Juda. Unterwegs sagte Noomi zu ihren beiden Schwiegertöchtern: »Kehrt um! Geht zu euren Müttern zurück! Der Herr soll euch genauso lieben, wie ihr die Verstorbenen und auch mich geliebt habt. Er soll dafür sorgen, dass ihr ein neues Zuhause findet bei neuen Ehemännern.« Noomi küsste die beiden. Aber sie weinten laut und baten Noomi: »Lass uns mit dir zu deinem Volk zurückkehren!« Doch Noomi erwiderte: »Kehrt um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Ich kann keine Söhne mehr zu Welt bringen, die euch heiraten würden. Kehrt um, meine Töchter! Geht! Ich bin einfach zu alt für eine neue Ehe. Selbst wenn ich es nicht wäre – wenn ich noch heute Nacht mit einem Mann schlafen und danach Söhne zur Welt bringen würde: Wollt ihr wirklich warten, bis sie groß sind? Wollt ihr euch so lange einschließen und mit keinem Mann verheiratet sein? Nein, meine Töchter! Mein Schicksal ist zu bitter für euch! Die Hand des Herrn hat mich getroffen.« Da weinten die beiden noch lauter. Orpa küsste ihre Schwiegermutter zum Abschied. Aber Rut blieb bei Noomi. Noomi sagte zu Rut: »Schau! Deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott. Mach es wie sie: Kehr um!« Aber Rut antwortete: »Schick mich nicht fort! Ich will dich nicht im Stich lassen. Ja, wohin du gehst, dahin gehe auch ich. Und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott! Wo du stirbst, da will auch ich sterben, und da will ich auch begraben sein. Der Herr soll mir antun, was immer er will! Nichts kann mich von dir trennen außer dem Tod.« Noomi sah, dass Rut entschlossen war, mit ihr zu ziehen. Da hörte sie auf, es ihr auszureden. So wanderten sie gemeinsam nach Betlehem. Als sie dort ankamen, geriet die ganze Stadt in Aufregung. Die Frauen riefen: »Das ist doch Noomi!« Was will denn die da? So haben sie vielleicht gefragt, als sie ankam in Moab. Hinter vorgehaltener Hand oder auch ganz offen. Die Familie aus Betlehem mit Mann, Frau und Kindern. Wirtschaftsflüchtlinge aus dem Westen, wo es gerade nicht genug für alle gab. Jetzt kommen sie hier zu uns, um von unserem Wohlstand zu profitieren -- als wären wir das Sozialamt der ganzen Welt. Elimelech heißt er, der Migrant von den Efratitern aus Juda. "Mein Gott ist König." Das klingt nicht nach Unterordnung unter die Grundordnung des moabitischen Königreichs. Ehrlich gesagt, klingt es wie Hohn in den Ohren der Menschen von dort. Die gehen davon aus, dass jede Gegend ihre eigenen Gottheiten hat. Macht und Stärke dieser Götter lassen sich ganz direkt daran ablesen, wie gut es "ihren" Menschen geht. Das spricht nicht gerade für einen Gott, der angeblich "König" ist und dessen Nachfolger vor einer Hungersnot fliehen müssen. Machlon, "der Schwächliche" und Kiljon, "der Gebrechliche" -- die Namen der Söhne passen da schon viel eher. Und die Vorurteile scheinen sich ja zu bestätigen: Nach nur wenigen Jahren in Moab stirbt Elimelech und Machlon und Kiljon kurz nach ihm. "Was will denn die da?", haben sie vielleicht gefragt, als jetzt nur noch Noomi übrig blieb. Und mit ihr ihre zwei moabitischen Schwiegertöchter Rut und Orpa. Was die sich schon alles anhören müssen hatten, weil sie zwei Flüchtlinge geheiratet haben, das kann sich wahrscheinlich auch hier in Tailfingen so mancher bildlich vorstellen. Bei Trauergesprächen vor Beerdigungen habe ich oft ganz ähnliche Geschichten aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg gehört. Und so macht sich Noomi mit ihren zwei Begleiterinnen auf in Richtung Heimat. Nach Westen. Nach Juda. "Was will denn die da?", hat man vielleicht auch dort gesagt, als sie dort ankommen. Inzwischen sind sie nur noch zu zweit, denn eine der Schwiegertöchter, Orpa, ist umgekehrt. Auf Anraten von Noomi, das muss man ihr zugute halten. Die will nämlich nur das beste für ihre Schwiegertöchter. Sie will ihnen ein Leben als Witwen und Ausländerinnen in der Fremde ersparen. "Kehrt doch um", hat sie den beiden geraten. Fangt doch noch einmal neu an, zu Hause, bei eurem Volk! Orpa hat den Rat angenommen. Rut nicht. "Was will denn die da?", hat so mancher vermutlich gesagt (oder zumindest gedacht), als Noomi mit Rut im Schlepptau nach Betlehem zurückkehrt. Noomi, die es damals nicht ausgehalten hatte, hier in der Heimat. Die sich Besseres erhoffte in der Fremde und dort alles verlor. "War ja klar", denkt da vielleicht mancher. Ist nicht "Bleibe im Lande und nähre dich redlich" eine biblische Weisheit? Und jetzt kommt sie zurück mit so einer. Einer Fremden. Einer Moabiterin. Einer Götzenanbeterin, weiß man in Israel und hat strenge Gesetze gegen die Vermischung mit solchen Ausländern. Jetzt kommt die hier zu uns, und will mit profitieren vom Segen, den der eine wahre Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde, seinem auserwählten Volk versprochen hat. Will vielleicht noch einen von uns heiraten... So weit kommt's noch! Was will denn die da? Liebe Schwestern und Brüder in Jesus Christus, Ich hoffe ja, dass die eine oder der andere es bemerkt hat: Fast alles, was ihr bisher gehört habt, war pure Spekulation. Im biblischen Text sind all die Vorurteile und die Frage, "Was will denn die da?" nicht zu finden. Klar, sagen wir, man muss ja zwischen den Zeilen lesen und man kann sich schon vorstellen, wie das damals vermutlich gelaufen ist. Kann man das? Oder sind es einfach unsere eigenen Vorurteile, die wir da in einen alten Text hineinlesen? Wir sind nämlich die, die so denken. Es ist in unserer Zeit, dass Menschen, die auf der Flucht sind -- auf der Suche nach Überlebensmöglichkeiten, nach besseren Lebensbedingungen, getrieben von Krieg, Hunger und Verfolgung -- im Mittelmeer ertrinken. Wir erschauern kurz, wenn wir das in der Zeitung lesen und blättern um zu den Wirtschaftsnachrichten. Es ist auf unserem Kontinent, in unserem Europa, dass Menschen unter den unwürdigsten Bedingungen in Lager gepfercht werden, wo selbst sauberes Trinkwasser Mangelware ist. Wo Boote mit Flüchtlingen von rechtsstaatlichen Organen auf offener See abgedrängt werden und Rettungsschiffen der sichere Hafen verweigert wird (wenn sie nicht schon vorher einfach aus fadenscheinigen Gründen festgesetzt werden). Es ist hier bei uns in Europa, dass neue Grenzzäune gebaut werden und Menschen auf der Flucht im Winter ohne ein Dach über dem Kopf übernachten müssen. Das was wir in der Antike des Rutbuchs vermuten, das passiert hier bei uns. Und gerät gerne in Vergessenheit. Ja, Corona ist schlimm und stellt uns alle auf die Probe, zehrt an unseren Nerven und bringt ganz ungekannte Herausforderungen mit sich. Aber während ich mich in meinem warmen Wohnzimmer isoliere, um Kontakte zu vermeiden, versinken gar nicht so weit südlich von uns Menschen in Eis und Schlamm und Elend oder einfach im Meer. Was will denn die da? Was will denn der da? Das sind unsere Fragen. Nicht die des Rutbuchs. Im Gegenteil: Es ist geradezu erstaunlich, wie sehr sich dieses Buch gegen Grenzen wehrt, die natürlich auch in der Antike an manchen Stellen gezogen werden. Wo Herkunft und Nationalität, Religion und Glaube sonst als Maßstab für Abgrenzung gelten, da spricht dieses Buch eine andere Sprache: Ich will dich nicht im Stich lassen. Ja, wohin du gehst, dahin gehe ich auch. Und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott! Wo Geschlecht und sozialer Status sonst Grenzen sind, nach denen sich Menschen in Gruppen einteilen lassen, spricht dieses Buch, ganz ungewöhnlich für seine Zeit, durchgehend aus der Sicht der Frauen, nicht der Männer. Aus der Sicht der Armen, nicht der Reichen und Mächtigen. Aus der Sicht derer, die um's Überleben kämpfen und derer, die vom Schicksal schwer gebeutelt wurden: "Nennt mich nicht Noomi, 'meine Freude', sondern nennt mich Mara, 'die Bittere'!" Das Rutbuch stellt die in den Vordergrund, die oft keinen Fürsprecher haben, die von den Resten der Gesellschaft leben, die nicht im sichtbaren Segen schwelgen. Da werden Grenzen überwunden, die sonst Menschen voneinander trennen. An dem Punkt, wo sonst eine von beiden hätte umkehren müssen, geht es hier gemeinsam weiter. "Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott!" "Was will denn die da?", ist genau die Frage, die im Rutbuch nicht vorkommt. Ein kleines Schmuckstück der hebräischen Weisheitsliteratur klingt plötzlich ganz modern und aufgeklärt, wenn wir genau hinhören. Wir stehen daneben und sind fast peinlich berührt, weil wir, die Aufgeklärten und Modernen, uns oft ganz anders benehmen. "Was will denn die da?", ist genau die Frage, die im Rutbuch nicht vorkommt. Und genau diese Tatsache ist der Grund, warum uns heute dieser Text begegnet -- am 3. Sonntag nach Epiphanias. Als Christen können wir nämlich gar nicht anders, als darin Spuren des Gottes zu entdecken, der die Grenzen überwindet, die wir oft ziehen. Der bedingungslos und grenzenlos alle Menschen liebt. Seinen Herzschlag entdecken wir in Rut und Noomi aus dem alten Weisheitsbuch. Seinen Herzschlag hören wir in der Jahreslosung: "Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist." Dieser Herzschlag durchzieht den Wochenspruch, in dem es keine Grenzen gibt: "Es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes." Und dieser Herzschlag wird Mensch in dem, an dem sich unser Glaube festmacht: in Jesus Christus. Die Sonntage nach Epiphanias beschäftigen sich ja alle thematisch mit verschiedenen Aspekten dessen, was geschieht wenn Gott -- wie wir an Weihnachten gefeiert haben -- zu den Menschen kommt. Sein Herzschlag lässt sich schon in den alten Schriften spüren, aber nirgends besser beobachten als in diesem Jesus von Nazaret. Der kennt nämlich auch nicht die üblichen Grenzen. Der geht ganz unerschrocken auf Frauen zu, lässt Kinder zu sich kommen, berührt selbst ansteckend Kranke. Er schreckt vor stadtbekannten Sündern nicht zurück. Er hat keine Hemmungen gegenüber Ausländern, oder Armen oder sonst irgendjemand, der in der übrigen Gesellschaft eher ausgegrenzt wird. Er ist es, auf den der Wochenspruch zurückgeht: "Es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes." Und er ist der Grund dafür, weil Gott in ihm allen Menschen das Heil bringt -- nicht nur Israel, sondern auch allen anderen. Er ist, mit den Worten eines Adventslieds, "der Heiden Heiland." "Heiden", das ist auch wieder so ein menschlicher Trennungsbegriff. Da wird unterschieden, wer dazugehört und wer nicht. Gott tut das nicht. Das sehen wir in Jesus und in Texten wie dem Rutbuch. Gut für uns, denn so dürfen auch wir zu ihm gehören. Über diese Wahrheit des Evangeliums können wir uns heute freuen -- der Heiden Heiland. Unser Heiland. Aber mehr noch als das dürfen wir uns ruhig von diesem Herzschlag Gottes anstecken lassen. "Was will denn die da?" fragen und denken wir, bewusst oder unbewusst, noch viel zu oft. Und wo wir Grenzen ziehen, da bleiben Menschen auf der Strecke. Draußen. "Mein Volk ist dein Volk und mein Gott ist dein Gott." Wo wir mit Gottes Herzschlag zu leben lernen, da zeigt sich Barmherzigkeit wie eine einladende Hand. Da werden Grenzen abgebaut, Zäune niedergerissen und Trennungen überwunden. Da geschieht etwas, was uns alle verändert: Da erleben alle ein Stück mehr das Heil des Heilands der Heiden. Möge das hier bei uns geschehen. Amen.    
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